Rezension über:

Andreas Dehmer: Italienische Bruderschaftsbanner des Mittelalters und der Renaissance (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz. I Mandorli; Bd. 4), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 399 S., 120 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06460-7, EUR 68,00
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Rezension von:
Friederike Wille
SFB "Medien und kulturelle Kommunikation", Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Friederike Wille: Rezension von: Andreas Dehmer: Italienische Bruderschaftsbanner des Mittelalters und der Renaissance, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/4908.html


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Andreas Dehmer: Italienische Bruderschaftsbanner des Mittelalters und der Renaissance

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Dante lässt in seiner Göttlichen Komödie zu Beginn des Inferno, gleich hinter der Höllenpforte, die Lauen auftreten, Menschen, "die ohne Lob und ohne Schande lebten". Sie sind doppelt verbannt, indem sie sogar außerhalb der eigentlichen Höllensystematik platziert werden. Ihr ewiges Schicksal besteht darin, ruhelos und in rasendem Tempo einem Banner - "una insegna" - hinterherzulaufen. Sie sind nackt und werden von Mücken und Wespen zerstochen, bis Blut vermischt mit Tränen vom Gesicht bis zu den Füßen strömt. Die Prozession dieser anonymen "anime triste" zieht nicht einmal das Mitleid Dantes auf sich. Er wendet schnell den Blick ab. Die in Prozession getragenen Bruderschaftsbanner, von denen das vorliegende Buch handelt, sollen ganz im Gegenteil alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie definieren und etikettieren visuell das dahinter versammelte Kollektiv. In umgekehrter Perspektive geben sie den "Mitläufern" Orientierung im öffentlich zur Schau getragenen, Gruppenidentität stiftenden Leitbild.

Bruderschaftsbanner wurden bislang nicht in einem umfassenden Sinn kunstwissenschaftlich oder monografisch systematisch unersucht. Die Regensburger Dissertation von Andreas Dehmer will nun "anhand der überkommenen Malwerke, zusammen mit schriftlichen Quellen, eine erste Annäherung an diese eigenständige Denkmälergruppe religiöser Malerei" bieten, wobei "möglichst viele Facetten des Phänomens zur Sprache" (12) kommen sollen. Es entstand so eine umfangreiche Materialsammlung rund um die figürlich bemalten, italienischen Gonfaloni zwischen ihrem ersten Auftreten im 13. und der katholischen Reform im 16. Jahrhundert. Eine Vielzahl von Zitaten aus unterschiedlichsten Dokumenten ergänzt das ob der Fragilität des textilen Bildträgers relativ spärliche, im Anhang präsentierte Material der erhaltenen Banner. Die 120 Katalognummern ordnen die Banner alphabetisch nach momentanem Aufbewahrungsort. Berücksichtigt wurden ausschließlich die figürlich bemalten, textilen Gonfaloni religiöser Laienbruderschaften in Mittel- und Oberitalien. Das frühste Beispiel ist das pretiöse, mit Silberfäden durchwirkte und bestickte Seidentuch in Torcello von1366. Dehmer macht hier die einzige Ausnahme von seiner Regel, nur bemalte Banner zu berücksichtigen. Das späteste Beispiel ist ein doppelseitig mit Öl bemalter Leinwandgonfalone in Argenta aus dem Jahr 1577.

Bevor die Banner und ihre Bilder selbst thematisiert werden, widmet sich Dehmer dem Phänomen religiöser Laienbruderschaften an sich, um in einer "panconfraternal methodology" (15) die organisierte, kollektive Laienfrömmigkeit zwischen 13. und 16. Jahrhundert ganz allgemein zu skizzieren (15-34). Obwohl, so auch vom Autor zugestanden, Begrifflichkeiten, Organisation und Funktion höchst komplex und die Übergänge fließend sind, wird nichtsdestotrotz eine grobe Kategorisierung vorgeschlagen. Andachts-, Geißler-, Sakraments- und Rosenkranzbruderschaften firmieren als "devotionale Bruderschaften". Karitative Bruderschaften, Jugend- und Doktrin-, sowie Zunft- und Nationalbruderschaften werden als "Spezialisierungsformen" beschrieben (23-34).

Wie in der seit ca. 20 Jahren überbordenden Literatur zum Phänomen der Bruderschaften, betont auch Dehmer ganz zu recht die Verflechtung geistlicher, weltlicher und privater Sphären in den Bruderschaften, die so gleichsam ein Scharnier zwischen profaner und geistlicher Welt darstellen. Die Organisationsformen ähneln denen von Zünften oder Kommunen. Gleichzeitig werden aber auch paraliturgische Rituale praktiziert. An solch einem Ort der Verschaltung differenter kultureller Felder verdienten Bilder besondere Aufmerksamkeit. Altarbilder, Kapellenausmalungen oder Ausstattungen der Versammlungslokale von Bruderschaften sind daher seit Längerem Thema der Kunstgeschichte. Die Banner - Frömmigkeits-, Repräsentations- und Distinktionszeichen zugleich - stellen ein anderes Medium dar, in dem sich das Selbstverständnis der Bruderschaft, heruntergebrochen auf ein visuelles Zeichen, ein repräsentatives Icon, manifestiert. Eine interessante Frage wäre, wie sich die Fahnen in die je spezifische Bildrhetorik der Bruderschaften einordnen. Dehmer gibt im Rahmen des einführenden Bruderschaftskapitels einen kurzen Exkurs "Konfraternitäten als Kunstpatrone" (34-40). Leider erfolgt darin nur die schiere Aufzählung der alt bekannten und prominentesten Aufträge zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert.

Im zweiten Kapitel soll die "Gattung bemalter Prozessionsbanner" (41-82) grundsätzlich definiert werden. Als passende Bezeichnung erscheint Dehmer "Gonfalone", Kampftuch, die im Unterschied zu "Stendardo" das Trägermedium des Stoffes impliziert, worauf es dem Autor ankommt. Geschichte und Verbreitung des "Objekts" Gonfalone werden in Aufzählungsreihen angedeutet und um Vergleiche aus Byzanz und dem übrigen Europa erweitert, damit die schon überholte Forschungsthese, die Prozessionsbanner seien eine vornehmlich in Umbrien entstandene Gattung noch einmal konterkariert. Die Vorgeschichte der Gonfaloni wird beleuchtet, indem die zwei Traditionsstränge der "vexilla ecclesiarum" und der laikalen "vexilla militarum" beschrieben werden, aus deren Kreuzung die Bruderschaftsbanner entstanden sind. Die mitunter weitschweifigen Exkurse dieses Kapitels werden leider nicht direkt fruchtbar gemacht für die Erkenntnis italienischer Gonfaloni.

Im Kapitel über die Funktionen der Bruderschaftsbanner (83-133) werden, wieder hauptsächlich im Wortlaut der Quellen, die Gonfaloni als "Leitbilder" der Konfraternitäten beschrieben. Sie finden Verwendung in Prozessionen und bei Predigten, kommen aber auch zum Einsatz innerhalb interner Zeremonien (Gründungsakte, Begräbnisse etc.) und bei kollektiven Frömmigkeitsübungen. Die so multifunktional eingesetzten Banner dienen als Repräsentations-, Distinktions- und Triumphzeichen, genauso wie Heilsweiser, die die Gruppe auf ihrem Weg zu Gott führen.

Im Zentrum der Arbeit steht das Kapitel zur Ikonografie der Gonfaloni: "Bildinhalte figürlich bemalter Bruderschaftsbanner zwischen 13. und 16. Jahrhundert" (135-216). Mit der Rubrizierung von "marianischen Motiven", "Heiligendarstellungen" und "Gottheitsdarstellungen und Pestbannern" soll "eine erste Zusammenschau der figürlichen Motive geboten werden" (135). Wieder wird, drei Jahrhunderte, Mittel- und Norditalien und Bruderschaften übergreifend, eine abundante Melange aus Quellentexten und Bildbeispielen geboten, die die unterschiedlichen ikonografischen Motivkomplexe indizieren. In einem eigenen Kapiteln werden "rahmende und ergänzenden Bildelemente" aufgelistet, dazu zählen auch Rahmen- und Bildinschriften, die losgelöst aus ihrem Bildkontext katalogisiert werden.

Im folgenden Kapitel werden "Bruderschaftliche Bestellungen und Bildsprache der Gonfaloni" (217-237) abgehandelt, allerdings fein säuberlich getrennt. Die Anliegen der Auftraggeber werden anhand der schriftlichen Angaben in den Dokumenten und Verträgen rekonstruiert. Die Betrachtung der Bildsprache bleibt getrennt davon und erschöpft sich in der Aufzählung "stilistischer Gestaltungsmerkmale", wie vor allem der "Prinzipien der Plakativität" (230). Unter der Überschrift "Erzählerische Elemente" wird dann vor allem für die Banner des 16. Jahrhunderts der Übergang von der statischen "Imago" zur dynamischen "Storia" konstatiert, die sich damit nun auch in die Sphären der Kunstdiskurse oder theatralen Inszenierungen einschreibe.

Der letzte größere Abschnitt des Buches ist den "maltechnischen Aspekten" gewidmet, da es erklärte Absicht des Autors ist, die Bedeutung der Gonfaloni für die Entwicklung der italienischen Leinwandmalerei, wie das auch schon Vasari tat, herauszuarbeiten. Zum Abschluss wird die Ähnlichkeit der "mobilen Medien aus dem Mittelalter" mit der Bildwerbung der Moderne insinuiert.

Der Anhang bietet eine chronologisch geordnete Auswahl von Quellentexten (1260 bis 1570): Vertragsdokumente, Inventare und Statuten, die Auskunft geben über Gründonnerstagsriten, Geißelvorschriften, Prozessionszeremonielle etc., sowie eine Auflistung der Stellen, in denen Vasari Prozessionsbanner erwähnt. Unter den Schwarz-Weiß-Abbildungen verzeichnen die sehr knapp gehaltenen Einträge Aufbewahrungsort, Künstler, Datierung, ikonografisches Motiv, Technik, Provenienz und die wichtigste Literatur. Die Inschriften auf den Bannern werden nicht erwähnt.

Dem Autor gebührt das Verdienst, erstmals einen Katalog der erhaltenen Bruderschaftsbanner erstellt und alle relevanten Quellen gesammelt zu haben. Das Buch bietet eine nahezu unglaubliche Fülle an Einzelbeobachtungen, die in der Hauptsache von Quellentexten gespeist werden. Es kann als Fundgrube zum Thema dienen. Die Heterogenität des Materials kommt dabei aber deutlicher zum tragen als der gemeinsame Gattungsbegriff vermuten lässt. Die locker kombinierten Quellenzitate aus drei Jahrhunderten und aus ganz Mittel- und Oberitalien suggerieren häufig Kontinuitäten und Kongruenzen, die der Blick auf die Bilder sofort dekonstruiert. Die Betrachtung der Gonfaloni ist zerlegt in Geschichte, Technik, Funktion und reine Ikonografie der Bildmotive. Das Charakteristikum dieser Gattung, generell komposit und polyvalent zu sein, und dadurch ein integratives Medium mit Schnittstellen zu vielen visuellen Diskursen in je unterschiedlichen Kontexten, wird dadurch eher verschleiert als erhellt. Der Autor schuf einen methodisch traditionellen Katalog, dessen altes Format aber an seine Grenzen stößt, wenn es ein megalomanes Maß an Quellenmaterial inkorporieren muss, das den exorbitanten Speicherkapazitäten einer Computerfestplatte geschuldet ist. Dem erschöpften Leser kommen die gehetzten Seelen der Lauen in Dantes Vorhölle in den Sinn.

Friederike Wille