Rezension über:

Hanns Jürgen Küsters / Monika Kaiser / Hans-Heinrich Jansen / Daniel Hoffmann (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Band 2: 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1972. Die Bahr-Kohl-Gespräche 1970-1973, München: Oldenbourg 2004, 2 Bde., XIII + 992 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-486-56762-5, EUR 89,90
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Rezension von:
Torsten Oppelland
Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Torsten Oppelland: Rezension von: Hanns Jürgen Küsters / Monika Kaiser / Hans-Heinrich Jansen / Daniel Hoffmann (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Band 2: 1. Januar 1971 bis 31. Dezember 1972. Die Bahr-Kohl-Gespräche 1970-1973, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/5438.html


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Hanns Jürgen Küsters / Monika Kaiser / Hans-Heinrich Jansen / Daniel Hoffmann (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe

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Je nachdem, wo man wohnt, kann eine Reise zum Bundesarchiv mehrere Stunden dauern. Nimmt man die hier vorliegende Edition zur Hand, dauert die "Anreise" etwa eine halbe Stunde - so lange dauert bemerkenswerter Weise die Installation der CD-ROM mit den "Bahr-Kohl-Gesprächen". Es ist schon eine beachtliche Innovation, dass der altehrwürdigen Edition der Dokumente zur Deutschlandpolitik dieses Mal eine CD-ROM beigegeben wurde. Dadurch erhöht sich die schiere Masse der aufgenommenen Dokumente natürlich enorm; die CD-ROM allein enthält, wie die Bearbeiter in den Vorbemerkungen stolz mitteilen, "Abbildungen der originalen Schriftstücke auf mehr als 8200 Seiten" (VII). Mit anderen Worten: Es wurden die originalen Quellen aus den Archivbeständen eingescannt, sodass sich der Leser tatsächlich wie im Archiv wähnt. Alle Stempel, Unterstreichungen und handschriftlichen Abzeichnungen der Dokumente bekommt der Leser zu Gesicht und keineswegs nur die "bereinigte", gedruckte Version, wie es in einer Edition sonst üblich ist. Das vermittelt dem Nutzer ein ganz anderes Gefühl der Authentizität. Davon einmal abgesehen, hat die Entscheidung, die Dokumente nicht erst zu edieren und daran anschließend auf CD-ROM zu brennen (wie etwa bei der Sonderedition "Deutsche Einheit"), auch Nachteile. Nicht alle Dokumente sind gleich gut zu lesen. Bei manchen ist der Hintergrund so dunkel, dass die maschinenschriftlichen Lettern nur mit Mühe zu entziffern sind. Zudem fehlt der editorische Apparat. Und darüber hinaus stellt sich in dem Moment, wo man mit digitalisierten Dokumenten arbeitet, die Frage der Online-Publikation. Die ebenfalls vom Bundesarchiv herausgegebenen Kabinettsprotokolle der Bundesregierung sind seit Oktober 2003 auch online nutzbar. Dabei ist man den anderen Weg gegangen, die Dokumente nicht einzuscannen, sondern die edierten Dokumente ins Internet zu stellen. Was letztlich günstiger ist und ob eine mögliche Verlinkung der verschiedenen im Internet zugänglichen Quellen (vielleicht zukünftig nicht nur mit den Kabinettsprotokollen, sondern auch mit den Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland und den Foreign Relations of the United States) durch die unterschiedlichen Vorgehensweisen erschwert wird, ist schwer zu beurteilen.

Warum in der vorliegenden Edition anders vorgegangen wurde, liegt auf der Hand. Zum einen ersparte man sich einen erheblichen zeitlichen Aufwand, und zum anderen war man kaum gezwungen auszuwählen. Das Medium CD-ROM bietet so viel Speicherplatz, dass man praktisch die gesamte Überlieferung zu den Bahr-Kohl-Gesprächen, die umfangreichen stenografischen Protokolle der DDR-Delegation, aber auch die Anlagen sowie die Kurzzusammenfassungen und Einschätzungen der beteiligten Akteure, aufnehmen konnte.

Das Stichwort Zeitersparnis ist noch in einer weiteren Hinsicht relevant, denn "zugunsten einer schnelleren Publikationsfolge" der VI. Reihe hat man auf eine inhaltliche, den Forschungsstand zusammenfassende Einleitung verzichtet und sich auf eine "weniger arbeitsaufwendige Kommentierung der Quellen" (VIII) beschränkt. Dies hat gewiss auch mit geringeren personellen und finanziellen Ressourcen zu tun, ist aber nichtsdestoweniger bedauerlich.

Davon unabhängig bürgt das bewährte Team der Bearbeiter unter der Leitung von Hanns Jürgen Küsters für eine gleich bleibende Qualität der Edition. Während Daniel Hofmann, der bereits für den ersten Band der VI. Reihe zuständig war, für die CD-ROM und den zweiten Teilband verantwortlich zeichnet, haben Monika Kaiser und Hans-Heinrich Jansen den ersten Teilband, der traditionell chronologisch angelegt ist, besorgt. Frau Kaiser, die sich zuvor am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam mit ihrer Monografie über den Machtwechsel in der DDR von Ulbricht zu Honecker einen Namen gemacht hat, ist zweifellos eine wichtige Bereicherung des Teams, denn sie kennt die archivalische Überlieferung der DDR-Behörden genau. Und es ist ein besonderes Kennzeichen dieser Edition, dass jeweils beide Perspektiven, die bundesdeutsche und die der DDR, dokumentiert werden.

Die Qualität der Edition kommt insbesondere in der die Nutzbarkeit sehr erleichternden Erschließung der Quellen durch verschiedene Register zum Ausdruck. Während der erste Teilband wie üblich durch die Anmerkungen zu den einzelnen Dokumenten, in denen immer wieder auf die parallelen Überlieferungen etwa des Auswärtigen Amts verwiesen wird, und ein Sach- und Personenregister erschlossen wird, kommen bei den Bahr-Kohl-Gesprächen die im Teilband 2 abgedruckten zeitgenössischen Stichwortregister hinzu, die zur amtlichen Nutzung der Quellen angelegt worden waren. Jedoch fehlt hier ein Personenregister. Das ist insofern etwas bedauerlich, als in den Verhandlungen zwischen Bahr und Kohl immer wieder über dritte Personen, etwa den damaligen National Security Advisor Henry Kissinger, gesprochen wurde.

Letzteres hängt vor allem mit der Interdependenz zwischen den deutsch-deutschen Gesprächen und den parallel stattfindenden Vier-Mächte-Verhandlungen über Berlin zusammen. Nachdem der Moskauer Vertrag, der am Ende der ersten Etappe der sozialliberalen Ostpolitik paraphiert worden war, nunmehr auf Grund des Junktims zwischen Ratifizierung des Vertrages und dem Zustandekommens eines zufriedenstellenden Berlin-Abkommens der vier Siegermächte in einer Warteschleife steckte, standen in den in dieser Edition behandelten Jahren 1971 und 1972 eben diese Vier-Mächte-Verhandlungen, bei denen beide deutschen Staaten nur mittelbare Akteure waren, und die sehr mühsamen deutsch-deutschen Gespräche im Vordergrund. Gerade diese komplexe internationale Situation macht die Edition so reizvoll. Denn hier ergeben sich Forschungsperspektiven, die weit über den Gegenstand im engeren Sinne hinausweisen. Ein Beispiel: Gleich im ersten Dokument des ersten Teilbands behauptet Valentin Falin, damals sowjetischer Botschafter in Bonn, im Rahmen einer Konsultation zwischen dem DDR-Außenminister Winzer und Gromyko, dass "es sich erneut erwiesen [habe], daß die drei Westmächte die Regierung der BRD unvollständig und nicht präzise informieren" (25). Gemeint war: über den Verlauf der Vier-Mächte-Verhandlungen. Anhand der zahlreichen abgedruckten Dokumente lässt sich detailliert nachvollziehen, wie gut oder schlecht die Zusammenarbeit zwischen den USA und der Bundesrepublik tatsächlich war. Ebenso kann man nachvollziehen, wie gut oder schlecht die DDR von der Sowjetunion unterrichtet wurde. In ähnlicher Weise lässt sich erkennen, wie die bundesdeutschen Akteure auf der Klaviatur des "two-level game" (Robert Putnam) spielten, indem sie besonders in dem innenpolitisch turbulenten Jahr 1972 auf die Handlungsbeschränkungen der Regierung durch die Positionen des Koalitionspartners FDP und der CDU/CSU-Opposition verwiesen. Ähnliches ist für die DDR in sehr viel geringerem Maße erkennbar; der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker ist im Grunde nur daran erkennbar, dass die DDR-Dokumente ab Februar 1972 nur noch Sichtvermerke von Honecker erhielten.

Es ist vor allem diese Multiperspektivität, die den Wert der Edition ausmacht und die nicht nur die Detailforschung in der Zeitgeschichte befruchten, sondern auch stärker theoriegeleitete politikwissenschaftliche Studien zu den internationalen Beziehungen inspirieren kann. Darüber hinaus können die beiden Teilbände auch in der Lehre gewinnbringend eingesetzt werden.

Torsten Oppelland