Rezension über:

Christoph Marx: Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, 391 S., ISBN 978-3-8252-2566-7, EUR 18,90
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Rezension von:
Leonhard Harding
Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Leonhard Harding: Rezension von: Christoph Marx: Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/7082.html


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Christoph Marx: Geschichte Afrikas

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Der an der Universität Duisburg-Essen lehrende Historiker Christoph Marx präsentiert hier einen exzellenten Überblick. Er schließt den ganzen Kontinent ein und kombiniert strukturgeschichtliche Überblicke mit detaillierten Einsichten in einzelne Regionen und Sonderfälle. Seine Analyse lehnt sich nicht an ältere Muster an, die diesen Zeitraum der Geschichte Afrikas unter dem Vorzeichen der europäischen Beeinflussung sehen; stattdessen "soll die Geschichte Afrikas als die Geschichte der Afrikaner geschrieben werden, die als geschichtlich handelnde in Erscheinung treten" (12). Dieser Ansatz zieht sich durch das ganze Werk.

Der erste Teil mit dem Titel "Expansion" (17-151) bezeichnet den Zeitrahmen von 1800 bis 1900 als Zeitalter der Umwälzungen. Bis zum Ende der 1870er-Jahre waren die Protagonisten dieses Wandels Afrikaner, erst danach wurde die Intervention der Europäer bestimmend. Die Kapitel behandeln den Übergang vom Sklavenhandel zum Warenhandel, Eroberungen und Reichsbildungen, wozu das europäische Vordringen am Kap, in Algerien und am Senegal gehören, aber auch die islamischen Umwälzungen und das imperiale Projekt in Äthiopien, staatliche Reformen in Ägypten, Tunesien, Marokko, in West- und Südafrika. Marx thematisiert ferner Grundzüge afrikanischer Staatlichkeit im 19. Jahrhundert, religiöse Entwicklungen, Einwanderung und Siedlung, die koloniale Aufteilung und die Kolonialkriege.

Der zweite Teil, "Lebenswelten unter kolonialer Herrschaft" (153-238), stellt als übergreifendes Interpretationsmuster dar, "dass die Kolonialgeschichte nicht die Geschichte einer unbeschränkten Herrschaft der Europäer über machtlose, passive Afrikaner war. Vielmehr pendelte sich in jeder Kolonie, ja in jeder Stadt, in jedem Chiefdom, in jedem Dorf die Machtbalance anders ein, abhängig von den beteiligten Personen, ihren ökonomischen und kulturellen Ressourcen" (14). Zwei Kapitel werden geboten: eines behandelt den kolonialen Staat, seine Formierung in der Zeit des Ersten Weltkrieges, seine Charakteristik und die Typologie der Kolonien, das andere "Lebenswelten unter kolonialer Herrschaft". Dazu gehören: wirtschaftliche und soziale Veränderungen in Infrastruktur, Landwirtschaft, Gesundheitswesen, der Situation von Frauen und in den Städten; kultureller Wandel: Religion und Missionieren, das Kulturleben, die Disziplinierung des Habitus, die Entstehung neuer strategischer Gruppen und die neuen politischen Strömungen.

Der dritte Teil, "Brüche und Kontinuitäten", ist der Zeitgeschichte seit etwa 1930 gewidmet (239-376) und zeigt, dass in dieser Phase der Rückgewinnung und Neugestaltung der Macht durch Afrikaner Zäsuren und Kontinuitäten sichtbar werden, die das Verständnis der weiteren Entwicklung erleichtern. Er umfasst die Entwicklung der Entkolonisierung, den Patronagestaat, den Einbruch der Wirtschaft, die Demokratisierungsbewegungen sowie gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts.

Das Buch ist für einen größeren Leserkreis bestimmt und verzichtet auf Forschungshinweise, einen größeren Anmerkungsapparat und eine umfangreiche Bibliografie. Zahlreiche Abbildungen, darunter sehr viele Fotos, und Karten lassen den Inhalt plastischer erscheinen. Einige chronologische Überblicke (zum Beispiel über die Aufteilung Afrikas und die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten) sowie Texte zu besonderen Themen (zum Beispiel "der Kampf ums Bier", "Dahomey und Oyo: Sklavenhandel und politische Zentralisierung" oder "Währungen") und Persönlichkeiten (unter anderem Heinrich Barth, Sol Plaatje, Bokassa und Mandela) sind optisch herausgehoben und wollen exemplarisch Einsichten vertiefen.

Im internationalen Schrifttum behandeln nur wenige Werke diesen Zeitraum: "Africa since 1800" von Roland Oliver und Anthony Atmore (5. Auflage 2004), "L'Afrique Noire de 1800 à nos jours" von Catherine Coquery-Vidrovitch und Henri Moniot (1974), der Sammelband "Afrika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jh." von Inge Grau, Christian Mährdel und Walter Schicho (2000), sowie "Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert" von Leonhard Harding (1999). Diesen Werken gegenüber zeichnet sich das Buch von Christoph Marx dadurch aus, dass es der Entwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mehr Raum gewährt und einen breiteren Themenkreis anspricht: auch die Lebensbedingungen der Menschen, der kulturelle Raum, den sie schaffen, und das Lebensgefühl, das sie zum Ausdruck bringen, kommen zur Sprache.

Die Stärken dieses Buches liegen auf drei Ebenen: die Breite der Themen erlaubt einen tieferen Einblick in das Leben der Menschen, lässt sie stärker als Handelnde und Denkende erscheinen, deren Lebensbedingungen sich verändern und deren Welt in Frage gestellt wird, und die versuchen, diesen Veränderungen aktiv zu begegnen. Eine Gegenüberstellung von "Kulturleben der Kolonialzeit" (218-221) und "Das Kulturleben am Ende des 20. Jahrhunderts" (357-365) zeigt die Veränderungen besonders augenfällig auf. Besonders gut gelungen ist der große Bogen, der in Brüchen und Kontinuitäten gespannt wird vom vorkolonialen Staat als Personenverbandsstaat und den staatlichen Reformen im 19. Jahrhundert, über den kolonialen Staat, der zunächst ein "Terrorstaat" war und stets mit einem umfassenden Herrschaftsanspruch und dem Gewaltmonopol auftrat, bis zum Patronagestaat und der Symbolik personalisierter Herrschaft im unabhängigen Afrika.

Die zweite Ebene ist die Ergänzung allgemeiner, strukturgeschichtlicher Darstellungen und Typologien durch die Skizzierung von regionalen Besonderheiten, wie dem Zusammenhang zwischen Sklavenhandel und politischer Zentralisierung in Dahomey und Oyo, oder die Präsentation von Personen. Schließlich ist die sehr flüssige und bildreiche Sprache anerkennend zu erwähnen.

Kritische Fragen betreffen zunächst die Themenauswahl. Bestimmte Themen sind nicht aufgenommen, obwohl sie für das Konzept dieses Buches wichtig wären: die Kosmogonie der Dogon oder die innere Struktur und Dynamik der Reiche Asante und Buganda. Bei den Modernisierungsanstrengungen afrikanischer Staaten wird nur auf die Fante und die Stadt Abeokuta Bezug genommen, die Konflikte zwischen Händlern und herrschender Schicht in Asante oder Dahomey oder der Aufstieg der Stadt Ibadan werden nicht erwähnt. In der Typologie der Kolonien finden jene Territorien keinen Platz, die weder Plantagen-, noch Bergwerks- oder Siedlerkolonien waren, wie Nigeria, Mali, Kamerun oder Tanganyika. Es ist auch bedauerlich, dass manchen Themen ein relativ großer Platz und damit Bedeutung eingeräumt wird: so wird die Entwicklung der Landwirtschaft in der Kolonialzeit auf zwei Seiten, der Bereich Religion und Mission aber auf 14 Seiten behandelt.

Auch die Anordnung der Schwerpunkte erscheint nicht immer gelungen. Es ist problematisch, das ganze 19. Jahrhundert unter den Titel "Expansion" zu stellen. Der Übergang zum Warenhandel, Grundzüge afrikanischer Staatlichkeit, staatliche Reformen und religiöse Entwicklungen werden dadurch entgegen der Absicht des Verfassers doch mit der europäischen Expansion in direkten Zusammenhang gebracht. Die Artikulation eines ethnischen Bewusstseins in Kenya, die Bildung von Clubs und Vereinigungen, von organisierten Interessenvertretungen sowie die Organisation von Wählern und Kriegsteilnehmern (230-231) werden im Kapitel "Panafrikanismus" thematisiert.

Manche Interpretationen sind umstritten: so waren die Plantagen afrikanischer Herrscher im 19. Jahrhundert nicht kapitalistisch organisiert; das Reich Asante verdankte seinen Aufstieg vielen Faktoren, die Beteiligung am Sklavenhandel spielte dabei keine entscheidende Rolle (139), die innere Krise von Asante in den Jahren 1883-1888 war kein Nachfolgestreit (140), sondern ein Bürgerkrieg, in dem es um die Modernisierung des Staates ging. Was den Völkermord in Rwanda angeht, ist es eine problematische Verkürzung, die Ursachen in einem Zusammentreffen von Landkrise und politischer Krise zu sehen (332); eine partielle Erklärung dieses Völkermordes in einer Entwicklung zu verorten, die "Politik als Nullsummenspiel" erscheinen ließ (332), erscheint eher nichtssagend.

Leider baut Christoph Marx keine Quellen ein, obwohl mit Aussagen von Mandela, Nasser, Nyerere, Nkrumah oder Senghor programmatische Texte vorliegen.

Trotz dieser kritischen Fragen ist dieses Buch ein gelungener Wurf, der eine breite Themenvielfalt vorstellt und einer breiteren Leserschaft einen Zugang zur jüngeren Geschichte der Afrikaner öffnet.

Leonhard Harding