Rezension über:

Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin: Akademie Verlag 2003, 243 S., 76 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-003850-6, EUR 39,80
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Rezension von:
Claudia Hattendorff
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Hattendorff: Rezension von: Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin: Akademie Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/3659.html


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Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende

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Das Museum of Modern Art in New York hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren Ausstellungen gesehen, die nicht nur als ephemere Versammlungen qualitativ hoch stehender Werke von Bedeutung waren: 1989 etwa die Schau zu Picassos und Braques kubistischer Zusammenarbeit, 1990 die Primitivismus-Ausstellung (beide unter der Federführung von William Rubin) und 1992 Kirk Varnedoes und Adam Gopniks Ausstellung zum Thema "High and Low". Diese Ausstellungen haben daneben auch Publikationen hervorgebracht, die den Charakter von Referenzwerken haben. Die Autorin des vorliegenden Buches trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, dass sie ihre Schuld gegenüber der Publikation, die für ihre Themenstellung relevant war - Rubins Primitivismus-Katalog - [1], vorbehaltlos anerkennt. Dessen ungeachtet formuliert Küster einen eigenen Ansatz zum Primitivismus in der französischen Kunst um 1900. Mit Rubin stimmt sie darin überein, dass es bei dieser Art von Primitivismus im wesentlichen um das Eigene, nicht um eine anthropologische Beschäftigung mit dem Anderen ging. Bei Rubins bahnbrechender Ausstellung in New York und in den sie begleitenden Publikationen führte dies allerdings dazu, dass eine vom Kolonialismus geprägte Perspektive für den französischen Primitivismus von vornherein ausgeschlossen wurde. Küster zufolge gilt jedoch, dass "die Auswirkungen des Kolonialismus auf die Bildwelten der europäischen Kultur, in die der Primitivismus eingebettet ist, stärker berücksichtigt werden" sollten (23).

Auf dem Weg zu ihrem Ergebnis gliedert die Autorin ihre Ausführungen in drei Teile. In einem ersten Kapitel werden Texte zum Primitivismus und dem Primitiven aus der Zeit von 1890 bis 1912 untersucht, um den Blick auf ein zeitgenössisches Verständnis des Problems zu verdeutlichen. Küster weist darauf hin, dass sich dieses deutlich vom heutigen Gebrauch des Begriffs in der kulturhistorischen Forschung unterscheidet (43): Im Zentrum des Interesses standen "grundlegende Aussagen über den Menschen und seine Kunst" (44, 72), mit deren Hilfe auch die eigene nationale Kunst stärker in den Blick zu nehmen war (51, 64). Das Ziel eines solchen Ansatzes war klar: "Das Vergleichen und Zusammendenken der Kunst aller Zeiten und Kulturen - die Summe der Tradition - ermöglicht erst die Suche nach übergeordneten Prinzipien der Kunst." (67) Der Autorin dient das "Manifeste du Primitivisme", das 1909 in dem Themenheft "Du Futurisme au Primitivisme" der Zeitschrift "Poésie" veröffentlicht wurde, als ein wichtiger Beleg dafür, dass dieses "Ganzheitskonstrukt" unter dem Schlagwort "Primitivismus" zu subsumieren ist: "Die Unschärfe in der Begriffsverwendung von 'primitiv' und die vagen Beziehungen, die unter den verschiedenen 'Primitiven' gestiftet werden, führen 1909 zur ersten Verwendung der Bezeichnung 'Primitivismus' im 20. Jahrhundert: Das 'Manifeste du Primitivisme' definiert in diesem Sinne die Suche nach dem seit Urzeiten Gleichbleibenden in der menschlichen Kunst und im menschlichen Geist. Im Verständnis von 'primitiv' / 'primitivistisch' entwickelt sich dabei eine Zusammenziehung von 'alt' und 'gleich bleibend': Diejenige Kunst, die die seit frühester Zeit gleich gebliebenen Themen des Menschlichen bearbeitet, ist 'primitivistisch'." (91)

Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden die Konzeptionen einzelner Werke von Matisse und Picasso aus der Zeit von ca. 1900 bis 1912 untersucht, die sich für eine 'primitivistische' Lesart anbieten. Dabei will die Autorin "Angleichung und Überschneidung als ein strukturelles Kennzeichen 'primitivistischer' Werke aufzeigen" (100). In diesem Sinne werden in den Bildern Matisses formale Vergleiche und Synthesen europäischer und außereuropäischer Formen und Objekte aufgesucht. Im Falle Picassos wird auf dessen Suche nach kulturübergreifenden Urformen der Kunst verwiesen. Gegenüber der üblicherweise ins Feld geführten afrikanischen und ozeanischen Kunst hebt Küster die Bedeutung der altiberischen Kunst für Picasso nachdrücklich hervor.

Das dritte Kapitel widmet sich primitivistischen Werken, in denen der menschliche Körper im Mittelpunkt steht. Darstellungen beider Künstler werden als eine spezifisch anthropologische Form der Betrachtung im Spannungsfeld von Fotografie und Malerei angesprochen. "Der Körper des Menschen [...] wird über die Auseinandersetzung mit alter und fremder Kunst selbst mit Fragen des Kulturvergleichs konfrontiert. Man kann sogar davon sprechen, dass der Kulturvergleich im Körper des Menschen ausgetragen wird. Der Primitivismus erfährt nicht nur in der Kunstkritik einen 'anthropological turn', sondern auch in den Bildwerken und Repräsentationsformen des Menschen. Das Vergleichen verschiedener Kulturen ist ebenso wie für die Kunstkritik auch für Matisse und Picasso durch die Anthropologie und Ethnologie der Zeit 'kodiert'." (135)

Eingespannt sind diese drei Kapitel zwischen einer ausführlichen Einleitung, in der die Forschungsgeschichte zum Primitivismus in der französischen Kunst um 1900 aufgefächert wird, und einem Schlussteil, in dem die Hauptthese der Untersuchung noch einmal exemplifiziert und argumentativ untermauert wird: "Als kulturelle Praxis sollte das Vergleichen vor allem deswegen gelten, weil, wie oben ausgeführt wurde, die Künstler ähnlich verfahren wie weite Teile der mit der Kunst alter und fremder Kulturen beschäftigten Gesellschaft. Die Angleichungen und Überschneidungen zwischen verschiedener archaischer Kunst (von iberischer, ägyptischer bis zu chaldäischer und etruskischer Kunst) folgen der Ausstellung in den Galerien des Louvre oder im Palais du Trocadéro. Das Etablieren von Ähnlichkeiten zwischen diversen Kunstobjekten setzt mit künstlerischen Mitteln fort, was in den Museen, den Ausstellungen und in verschiedenen Wissenschaften stattfindet. Picasso und Matisse teilen eine Praxis, die auch von Museumsleuten in Ausstellungen ausgeübt wird, die also nicht nur theoretisch-wissenschaftlich, sondern auch in musealem Inszenieren für Künstler offensichtlich war." (172)

Küsters Hauptthese sei noch einmal wiederholt: Der Primitivismus bestimmter Werke von Matisse und Picasso war ihrer Meinung nach im Falle Picassos nicht etwa künstlerischer Ausdruck eines psychologischen Prozesses, bei dem es um die Bannung sexueller Triebe und Ängste ging (32), oder im Falle Matisses ein Versuch, den Betrachter in ferne, exotische Welten zu entrücken. Er sei vielmehr - worauf auch die Tatsache hindeutet, dass er sich an fremden Artefakten entzündete - Ausdruck einer vergleichenden Sicht auf eine eigene und eine fremde Kunst. Von seinem Wesen her sei der Primitivismus eine Suche nach gemeinsamen Prinzipien, die sich in den Werken unterschiedlicher Kulturen ausprägten (38). "Picasso und Matisse formen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Bildsprache, die insbesondere Menschen so darstellt, dass die Forschung sie bisher im Sinne primitiver, vereinfachter Formen interpretierte und ihre Herkunft in so genannter primitiver Kunst lokalisierte. Aus der Untersuchung der Bildwerke und vor allem aus der Diskussion des Primitivismus habe ich das Fazit gezogen, in ihnen nicht eine Vereinfachung, sondern eine Verallgemeinerung zu sehen. Ein wichtiger Grund für diese Verschiebung liegt in dem anthropologischen Blick, mit dem Picasso, Matisse und ihre Zeitgenossen die Kunst fremder Kulturen und die menschliche Gestalt betrachteten. Dieser Blick ist nicht ein ästhetischer, sondern anthropologisch bestimmt." (173) Es gehe dabei um die Bestimmung einer übergeordneten Idee des Menschlichen (175). Der Primitivismus bedeutete also nicht die Suche nach Unterschieden, sondern nach Gemeinsamkeiten, die sich aber nicht auf den Bereich der Form beschränkten. Vielmehr war deren Wahrnehmung in eine großräumigere kulturelle Technik zur Auseinandersetzung mit dem Fremden eingebettet.

Eine derartige Sicht auf die künstlerische Tradition ist für denjenigen, der sich etwa mit Kunstgeschichtskonzeptionen der französischen Avantgarden seit dem späten 19. Jahrhundert beschäftigt hat, sicher keine Neuigkeit. Die Salonkubisten Metzinger und Gleizes beispielsweise formulierten um 1912 mit Bezug auf die angeblichen genuin französischen Qualitäten des Kubismus die Vorstellung, dass sich über eine Reduktion auf generelle Prinzipien historische Bezüge zwischen ihrer eigenen Kunst und derjenigen der Vergangenheit herstellen ließen. Bei der stark von Konzepten des 17. Jahrhunderts beeinflussten Sicht auf eine nationale Schule der Malerei in Frankreich lag die Vorstellung, dass Formprinzipien die sinnstiftende Aufgabe, historische Bezüge herzustellen, übernehmen könnten, vermutlich nahe. [2] Küsters Grundannahme ist also nicht überraschend und leuchtet unmittelbar ein. Auch die Art der Argumentation, die im Zuge des "anthropological turn" und des "corporal turn" nicht unerwartet kommt, und die konkreten Ergebnisse der detailreichen und meist kenntnisreichen Erörterung sind im Großen und Ganzen plausibel. Ein für die Gesamtbewertung von Küsters These bedeutsames Detail ist allerdings zu hinterfragen.

In Küsters Ausführungen spielt der Text "De la gaucherie des Primitifs" des Künstlers und Kunstschriftstellers Maurice Denis von 1904 eine wichtige Rolle. Küster diskutiert ihn in Zusammenhang mit Denis' "Définition du néo-traditionnisme" von 1890. Der erstgenannte Text steht jedoch im Kontext der von Denis um 1900 verfassten kunstkritischen und -historischen Schriften. Diese waren entstanden, nachdem er kurz vor der Jahrhundertwende unter dem Einfluss André Gides in Rom seine "Konversion" zur klassischen Kunst erlebt hatte. Küster allerdings beschäftigt sich mit keinem weiteren der aus dieser Konversion resultierenden Texte, in denen Denis unter anderem die Klassizität der Ingresschule oder die Klassizität und Aktualität Cézannes thematisierte (an einer späteren Stelle wird lediglich "De Gauguin et van Gogh au classicisme" in einer Fußnote zitiert; siehe Seite 118 Anmerkung 98). Angesichts der Tatsache, dass in den Schriften Denis' das Interesse an dem Primitiven in seine Überzeugung von der nachhaltigen Relevanz klassischer Prinzipien eingebettet ist, ist zu fragen, ob Küsters Darstellung der Kausalitäten und der Rolle des Primitivismus bei der Ausbildung der von ihr skizzierten Traditionsvorstellung nicht in Teilen zu revidieren ist: Vielleicht haben Traditionskonzepte, die sich unabhängig vom "Primitiven" in seiner europäischen und seiner außereuropäischen Ausprägung entwickelt haben und in Beziehung zu einer revidierten Vorstellung vom Klassischen in der europäischen Kunst standen, eine größere Rolle gespielt, als Küster ihnen zugesteht? Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Autorin außer den angesprochenen weiteren Texten von Denis selbst in dieser Frage auch jüngere Literatur zu Denis' Kunstkritik herangezogen hätte [3]. Es steht zu vermuten, dass sich Folgendes erweisen würde: Wahrscheinlich war das Primitive nur ein Faktor bei der Herausbildung der skizzierten Traditionsvorstellung und der aus ihr resultierenden kulturellen Praktiken. Dieser würde im Vergleich mit anderen Faktoren gegenüber Küsters Annahmen ein wenig an Bedeutung verlieren, an Profil aber noch gewinnen.


Anmerkungen:

[1] William Rubin (Hg.): Ausst. Kat. Primitivism in 20th Century Art. The Affinity of the Tribal and the Modern. New York, The Museum of Modern Art u. a., New York 1984.

[2] S. dazu Claudia Hattendorff: Künstlerhommage. Ein Bildtypus des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1998, Kap. 3.2.2. "'Cubisme' und 'tradition française'"; s. auch Kap. 2.1. "Cézanne und die 'Renaissance classique': Denis' Kunstkritik um 1900"; außerdem dies.: Die Suche nach der Nationaltradition in der französischen Malerei. Kunstliteratur und nationales Bewusstsein im 19. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 2004 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Quellen zur Kunst, Bd. 22) [im Druck].

[3] Zu nennen wären hier: Mathew Herban: Maurice Denis' 'Nouvel Ordre Classique' as Contained in His 'Théories', Diss. University of Pennsylvania 1972, sowie Richard Shiff: Cézanne and the End of Impressionism. A Study of the Theory, Technique, and Critical Evaluation of Modern Art, Chicago / London 1984.

Claudia Hattendorff