Frank Stahnisch: Ideas in Action. Der Funktionsbegriff und seine methodologische Rolle im Forschungsprogramm des Experimentalphysiologen François Magendie (1783-1855) (= Naturwissenschaft - Philosophie - Geschichte; Bd. 18), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, 296 S., 13 Abb., 5 Grafiken, ISBN 978-3-8258-6380-7, EUR 20,90
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Versucht man, die Veränderungen in der Wissenschaft von den Lebensvorgängen, der Physiologie, im frühen 19. Jahrhundert auf einen Begriff zu bringen, so bietet sich der der physiologischen Funktion an. Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden die biologischen Fähigkeiten des Körpers zumeist als Eigenschaften verschiedener Teile desselben aufgefasst. Im 19. Jahrhundert verband sich dann mit dem Begriff der physiologischen Funktion ein abstraktes Verständnis physiologischer Prozesse, die jetzt als Resultat eines Wechselspiels verschiedener Teile des Körpers erschienen.
Als Urheber dieses Begriffs der physiologischen Funktion, mit dem sich die Physiologie kognitiv von der Anatomie emanzipierte, gilt der französische Arzt François Magendie (1783-1855). Der Erlanger Medizinhistoriker Frank Stahnisch hat mit der Buchveröffentlichung seiner Dissertation von 2001 jetzt eine bemerkenswerte Studie zum Thema der Genese des Funktionsbegriffs vorgelegt. Wie schon der Untertitel deutlich macht, will das Buch keine Biografie des französischen Physiologen sein, vielmehr geht es um eine von wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophischen Intentionen getragene Analyse der Genese des Begriffes der physiologischen Funktion aus der experimentellen Praxis Magendies. Als methodisches Rüstzeug der Untersuchung dient das in den 1970er-Jahren von Imre Lakatos entwickelte Modell eines Forschungsprogramms, das einen zugleich stabilisierenden wie wandlungsfähigen Rahmen wissenschaftlicher Beobachtungen liefert.
In den ersten beiden Kapiteln beschreibt Stahnisch zunächst die beiden wichtigsten Quellen, aus denen Magendie schöpfte: Zum einen die Anatomie und Pathologie Marie-François-Xavier Bichats (1881-1802), der der Nachwelt vor allem als derjenige in Erinnerung geblieben ist, der die Anatomie seiner Zeit um die Unterscheidung verschiedener Gewebstypen bereicherte. Die physiologische Leistungsfähigkeit bestimmter Typen, wie etwa des Lebergewebes, wurde auf diese Weise deutlich akzentuiert; gleichzeitig waren diese Leistungen doch keine Funktionen, denn sie waren unmittelbar an ihr somatisches Substrat gebunden. Zum anderen war Magendie stark durch die vergleichende Anatomie des Zoologen Georges Cuvier (1769-1823) beeinflusst. Von Cuvier, dessen Nachruhm nicht zuletzt auf der von ihm perfektionierten Methode beruhte, aus einzelnen Knochen etwa das Skelett eines ganzen Tieres zu rekonstruieren, gab es das Gespür für die Wechselwirkungen verschiedener Körperteile zu lernen.
Indem nun Magendie von diesen beiden Ansätzen ausging, vermochte er die physiologischen Leistungen des Körpers als Prozesse zu begreifen, die aus der Wechselwirkung verschiedener Körperteile hervorgehen. Die physiologischen Leistungen des Organismus, die noch bei Bichat eng an bestimmte Orte gebunden waren, wurden damit für Magendie zu Funktionen. Gleichzeitig änderte sich die bevorzugte Methode der Untersuchung. An die Stelle des anatomischen Präparats, das über die Eigenschaften eines Organs Auskunft zu geben vermochte, trat das physiologische Experiment als Repräsentation der physiologischen Funktion.
In den zentralen Kapiteln seiner Arbeit zeigt Stahnisch eindruckvoll, wie sich bei Magendie ein Wechselspiel von experimenteller Praxis und wissenschaftlicher Begriffsbildung entwickelte. Dabei lieferte der Funktionsbegriff einerseits den Impetus des experimentellen Vorgehens, anderseits half die experimentelle Praxis - im Sinne eines Denkens mit den Händen und den Apparaten -, den Möglichkeitsraum des Begriffs zu erweitern. Der Sinn der Experimente lag letztlich darin, die physiologischen Funktionen aus dem anatomischen Substrat, in das sie eingebettet sind, zu abstrahieren und diese Funktionen gleichzeitig als epistemische Objekte der Forschung anzureichern und zu operationalisieren. Gerade der Ersatz von Körperteilen durch Prothesen im Experiment, von Adern durch Federkiele oder Mägen durch Schweinsblasen, ermöglichte eine Erforschung von physiologischen Funktionen durch ihre Manipulation im Experiment.
Der Beleg, in welchem Grade theoretische Innovation und experimentelle Praxis sich in Magendies Arbeit gegenseitig befruchteten, ist Stahnisch eindrucksvoll gelungen. Die Darstellung ist gut strukturiert, stellt allerdings gewisse Ansprüche an den Leser, was bei dem Niveau der Darstellung nicht überrascht. Der Autor bemüht eine halbe Bibliothek zum Thema der Wissensproduktion in der Forschung von Popper bis Latour, ohne dass immer deutlich wird, in welchem (möglicherweise höchst problematischen Verhältnis) einige der Autoren zueinander stehen und was Stahnisch bewogen hat, sich der jeweiligen Positionen zu bedienen.
Überdies bleibt auf dieser Ebene eine Frage offen: Die Orientierung an der dem logischen Empirismus Poppers nahe stehenden Position von Lakatos und der leicht provokante Titel des Buches "Ideas in Action" hätten eine ausführlichere Diskussion des wissenschaftssoziologischen Konstruktivismus erfordert, der Bruno Latours Klassiker der Wissenschaftsforschung "Science in Action" auszeichnet. Andererseits leistet Lakatos' Erklärungsmodell am gewählten Gegenstand gute Dienste. Damit stellt sich die Frage, ob eine ausgedehntere Methodendiskussion die Kenntnis des Gegenstandes noch vorangebracht hätte. Stahnischs "Tour de force" verschiedener Theorien der Wissensproduktion wirft am Ende mehr Fragen auf, als sie beantwortet, sie ist entweder zu knapp oder - was zugegebenermaßen die persönliche Präferenz des Rezensenten wäre - im Wesentlichen verzichtbar.
In der Summe ist Stahnischs "Ideas in Action" ein Buch, das durch eine Fülle von Informationen, eine klare Argumentation und schließlich durch eine originelle und einleuchtende These besticht. Vorbildlich mit Personen- und Sachregister ausgestattet, ist es ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Experimentalisierung des Lebens im 19. Jahrhundert und wird zur Lektüre nachdrücklich empfohlen.
Christoph Gradmann