Rezension über:

Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 476 S., ISBN 978-3-506-72155-6, EUR 44,80
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Rezension von:
Lars Behrisch
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Lars Behrisch: Rezension von: Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 10 [15.10.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/10/3105.html


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Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre

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Mit den "Frankfurter Verhören" evoziert Joachim Eibach den klassischen Titel deutscher Kriminalitätsgeschichte: Gerd Schwerhoffs "Köln im Kreuzverhör". [1] Dies ist sicher kein Zufall: Die Parallelen in Thematik und Fallauswahl, in Quellenbasis und Auswertungsmethodik, in Aufbau und Umfang sind evident. Eibach löst damit das lang überfällige Desiderat ein, den bisher weitgehend auf das 15. und 16. Jahrhundert beschränkten Blick der Forschung auf das 18. Jahrhundert hin zu verlängern.

Wie im Fall Kölns kann sich die Untersuchung dabei auf ein geschlossenes Quellenkorpus stützen, die 'Criminalia' des Frankfurter Ratsgerichts. Sie enthalten die wichtigsten Unterlagen sämtlicher registrierter Fälle: Verhörprotokolle, Bittgesuche, Gutachten und in aller Regel einen Urteilsvermerk. Zur Auswertung wählt auch Eibach meist Fünfjahresschritte als zentrale Untersuchungsschneisen: Die qualitative Interpretation fokussiert die Jahre 1741-1743, 1771-1775 und 1801-1805; die quantitative Auswertung, die durch zeitgenössische Repertorien deutlich erleichtert wird, basiert auf fünf regelmäßigen Jahrfünften von 1721-1725 bis 1801-1805 und damit auf 2485 Einzelfällen.

Um dem Leser von vornherein eine angemessene Einschätzung der untersuchten Phänomene zu ermöglichen, führt Eibach ihm zunächst die quantitative Dimension und Entwicklung der Delinquenz vor Augen, bevor die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt, die einzelnen Felder der Delinquenz und die Logiken der Strafjustiz beleuchtet werden. Grundsätzlich ist zunächst der Befund, dass im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten die Eigentumsdelinquenz gegenüber den Gewaltvergehen deutlich dominiert (101f., 287ff.). Die Binnenchronologie zeigt, dass die Konjunktur starken Schwankungen und Wellenbewegungen unterlag. Da sich hierfür allerdings keine Ursächlichkeiten finden lassen - so hatte die Brotpreisentwicklung allenfalls sekundären Einfluss -, ist die Rede von einer "zyklischen" Entwicklung etwas irreführend (89 und öfter), insofern sie tiefere Zusammenhänge mit anderen gesellschaftlichen Prozessen suggeriert. Insgesamt aber zeichnet sich - nach einer Zunahme in den Dreißiger- und Vierzigerjahren - besonders vor dem Hintergrund steigender Einwohnerzahlen ein Rückgang der registrierten Delinquenz ab. Ob dies eher auf die rückläufige Zahl der Gewaltdelikte oder auf die Bekämpfung der Vagantenpopulation zurückgeht, ist aus den vorliegenden Zahlen allerdings nicht eindeutig abzulesen (103ff.).

Die demografischen und ökonomischen, sozialen und kulturellen sowie rechts- und ideengeschichtlichen Kontexte der Kriminalität ergründet Eibach in den Abschnitten zur Gewalt- und Eigentumsdelinquenz. Hier zeigt er sich als souveräner Meister seines Faches und zwar gleichermaßen in Darstellung, methodischer Stringenz und analytischer Schärfe: Er führt in den Alltag der Stadt hinein, ohne mit langwierigen Fallschilderungen und Quellenzitaten zu langweilen; legt Schlagseiten und Lücken des Materials offen, ohne in dessen Unwägbarkeiten unterzugehen; verkettet und verstrebt seine Schlüsse schließlich in einer Weise, die jeden Zweifel an ihrer Gültigkeit ausschließt.

Die Fülle der dabei gewonnenen Erkenntnisse lässt sich hier nicht adäquat berücksichtigen. Als zentrales Ergebnis ist aber festzuhalten, dass Gewalt im städtischen Alltag im Vergleich mit den Untersuchungen zum 15. und 16. Jahrhundert deutlich weniger präsent war, ja, sich auf bestimmte soziale und topografische Orte zurückgezogen hatte. Das höhere Bürgertum - Patriziat, Kaufmannschaft und die wachsende Bildungselite - hielt sich im Frankfurt des 18. Jahrhunderts von Gewalt fern. Dies korrespondierte zum einen mit der politischen Emanzipation des nichtpatrizischen höheren Bürgertums nach dem Verfassungskonflikt (1705-1732), zum anderen mit einer allgemeinen kulturellen Distanzierung, die im Kaffeehaus, der dort gepflegten Lektüre und Unterhaltung ihren Ausdruck fand. Das Handwerksbürgertum geriet dazu in zunehmende soziokulturelle Distanz. Von der politischen Teilhabe faktisch ausgeschlossen, tradierte seine ständisch-korporative Verfasstheit die überkommenen Rituale männlicher und beruflicher Identitätsstiftung ebenso wie die herkömmlichen Formen des Konfliktaustrags und der Ehrverteidigung. Hier bleibt das für das 15. und 16. Jahrhundert wiederholt gezeichnete Bild der typisch vormodernen Wirtshaus-Öffentlichkeit gültig, wo ein jeder seine Ehre vor Angriffen zu schützen hatte und es daher fortwährend zu verbalen und gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Den Schlagabtausch zwischen Kaufmann und Handwerksgesellen aber sucht man jetzt vergeblich: Die ständisch-sozialen Sphären hatten sich voneinander gelöst; "konfliktträchtige Kontakte zwischen höherem Bürgertum und Unterschichten [entstanden] nur in eindeutig herrschaftlich definierten Kontexten wie z.B. innerhalb des Hauses zwischen Dienstherr und Dienstboten" (214). Dort wurden sie nicht auf Augenhöhe, sondern entsprechend dem dienst- oder hausherrlichen Züchtigungsrecht geregelt, was sie dem Blick des Gerichts und damit auch des Historikers weitgehend entzieht. Analog zur Verschmelzung des höheren Bürgertums lässt sich schließlich auch im unteren Segment der Bevölkerung eine neue Konstellation beobachten: Bürgerstatus und Handwerkerehre verloren gegenüber der gemeinsamen Erfahrung der politischen, ökonomischen und kulturellen Ausgrenzung der Unterschichten an Wert. Der Handwerker schlug sich jetzt nicht mehr mit dem Kaufmann, dafür aber mit dem Fuhrknecht (218f.); in früheren Jahrhunderten hätte er ihn dessen nicht für würdig erachtet. Die wichtigste soziokulturelle Scheidelinie, der Häufigkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen nach, verlief dabei in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend innerhalb des Handwerks zwischen Meistern und Gesellen (256ff.).

Ein ganz anderes Profil weist die Eigentumskriminalität auf. Die meisten Anzeigen betrafen hier stadtfremde Vaganten. Obwohl Indikatoren fehlen, um das konkrete Ausmaß der dem Gericht verborgen gebliebenen Delinquenz einschätzen zu können, erachtet Eibach die Zahl der von Frankfurter Bürgern verübten Diebstähle angesichts der grundsätzlichen Stigmatisierung des Delikts für gering (302f.). Dagegen ist beim Hausdiebstahl von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da Diebstähle von Gesinde in der Regel nur dann angezeigt wurden, wenn die mutmaßlichen Täter geflohen waren oder das Diebesgut nicht mehr auffindbar war (348). Auch das Hausgesinde rekrutierte sich im Frankfurt des 18. Jahrhunderts aber überwiegend von außerhalb der Stadt (337). Zusammenfassend stellt Eibach daher in Abgrenzung von klassischen kriminalitätshistorischen Theorien - einem Mentalitätswandel "de la violence au vol" und dem weitgehend aus der ländlichen Delinquenz abgeleiteten Bild des "social crime", des bewussten Protests im Rahmen eines dichotomischen Klassenkonflikts - ebenso nüchtern wie überzeugend fest: "Das 18. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert des Diebstahls, weil die Armut zunahm", und zwar besonders auf dem Lande (371). Bevölkerungszunahme und Missernten sprengten hier demografische und sozioökonomische Strukturen und trieben die Menschen in die Stadt.

Die 'Abwehr' dieser Armutsmigration war denn auch ein zentrales Anliegen der Strafjustiz des Frankfurter Rates, das er nicht nur mit der laufenden Ausweisung fremder Bettler (105ff.), sondern auch mit schärferen Sanktionsmaßnahmen gegen stadtfremde Delinquenten zur Geltung brachte. Zumindest hier erwies sich daher der Rechtsstatus eines Frankfurter Bürgers, ungeachtet aller sozioökonomischen Verwerfungen, weiterhin als wichtige Kategorie: Ein Bürger hatte das Anrecht auf materielle Unterstützung, durfte aber auch auf eine mildere, und das heißt vor allem: auf eine nicht ehrmindernde Bestrafung hoffen. Die Absicht des Rates, die Bürger nicht durch ehrenrührige Strafen gesellschaftlich auszugrenzen, wurde durch deren eigene Wahrnehmungsweise aber teilweise konterkariert: Denn die Zuchthausstrafe, die immer mehr an die Stelle älterer Sanktionsformen trat, galt in den Augen der Frankfurter eindeutig als ehrmindernd (394ff.). Geht man von den tatsächlichen Reintegrationschancen der Verurteilten aus, ist eine entscheidende 'Humanisierung' der Strafen im Vergleich zu der - hier stellenweise etwas überzeichneten (389, 405) - Praxis früherer Jahrhunderte also letztlich nicht zu konstatieren. Auch sonst überwiegen die Kontinuitätslinien: die zentrale Bedeutung von Ausweisungs- und Geldstrafen (387), eine deutlich höhere Strafzumessung bei Eigentumsdelinquenz (388ff.), die geringe Rückbindung der Urteile an konkrete Rechtstexte (379ff.) und schließlich auch bestimmte Rechtsinstitutionen wie Urfehde und Reinigungseid (392, 384), den die jüdischen Stadtbewohner in der Synagoge auf die Thora schwören konnten (363).

Welche Bedeutung haben all diese fundierten Ergebnisse für die Geschichte der Frühen Neuzeit? There's the rub. Eibachs Buch zeigt eindrucksvoll, dass sich die Kriminalitätsgeschichte in Deutschland als Teildisziplin professionalisiert hat, ihre eigenen Fragestellungen, Diskussionszusammenhänge, Erkenntnisraster besitzt - und belegt zugleich, dass sie damit Gefahr läuft, sich zu verselbstständigen und von übergreifenden Fragestellungen abzulösen. Die Scheu Eibachs, sich auf einen zentralen Fragezusammenhang festzulegen, ist im Einleitungskapitel mit Händen greifbar. Warum fragt er nicht explizit nach dem Zusammenhang zwischen politischem Konsens und der Nutzung der obrigkeitlichen Justiz? Nach der Rolle sozioökonomischer Faktoren für das Profil der Delinquenz? Nach den Folgen devianten Verhaltens für die Veränderung soziokultureller Milieus? Stattdessen wird der Begriff der "Lebenswelt" skizziert: Basierend auf wissenssoziologischen und kulturgeschichtlichen Definitionen, soll er die jeweils "normativ aufgeladene[n] Deutungs- und Wahrnehmungsweisen" von Wirklichkeit bezeichnen (23). Vor Gericht gelangten "bestimmte Ereignisse aus den Lebenswelten", die wiederum "das selbstverständlich Gegebene der Lebenswelt in Frage stellten" (24). So weit kann man allenfalls mitgehen. Doch wohin? Was interessiert Eibach, worauf läuft seine Untersuchung hinaus? Es ist legitim, dass er "bewußt [...] darauf verzichtet, dem Gang der Untersuchung ein einzelnes 'master narrative' in der Form einer großen entwicklungsgeschichtlichen Hypothese voranzustellen" (36). Höchst problematisch ist es aber, statt einer Erkenntnisperspektive lediglich ein Szenario und die vage Frage vorzugeben: Wie war die Lebenswelt der Frankfurter im 18. Jahrhundert beschaffen?

Es liegt an dieser mangelnden Fokussierung, dass die einzelnen Teile des Buches etwas unvermittelt nebeneinander stehen. So ist die Einbettung der politischen Rahmenbedingungen in den Kontext der Kriminalitätsgeschichte immer ein schwieriges Unterfangen, besitzt aber auch Potenzial zur Profilierung der ihr eigenen Erkenntnismöglichkeiten. Hier jedoch hat die "Delinquenz gegen Obrigkeit" keinen erkennbaren systematischen Ort. Es wird zwar deutlich, dass politischer Protest zunehmend entkriminalisiert wurde (127, 178), und das Kapitel zu den Gewerbe- und Straßenunruhen nach 1789 zeigt, dass die 'Criminalia' wertvolles, bislang unbekanntes Material zur politischen Kultur der Stadt enthalten. Warum aber müssen wir diese kennen, um Gewalt- und Eigentumsdelikte besser zu verstehen?

Auf den letzten Seiten der Arbeit werden die einzelnen Fäden schließlich doch vorsichtig zusammengeführt. Dabei zeichnet sich ein zentraler Fluchtpunkt ab: eine fundamentale, durch die demografische und ökonomische Entwicklung beschleunigte, soziokulturelle Differenzierung innerhalb der Stadtgesellschaft. "Streitaustrag, Geselligkeit und politischer Konflikt sind Indizien dafür, daß sich die Rechtserfahrung der städtischen Lebenswelt im 18. Jahrhundert viel eher neu polarisierte, als daß sie auf einen soziokulturell einheitlichen Bürgerverband zustrebte" (430). Diese soziale und politische Dichotomisierung und die Formation einer neuen Elite aber führen zu dem Schluss, dass "die Stadt des 18. Jahrhunderts [...] den Nukleus der neuen bürgerlichen Welt [bildete]" (431). Ein wichtiger Beitrag zu einer einschlägigen sozialhistorischen Forschungsdiskussion (siehe 20f.), den Eibach jedoch kaum profiliert. Sein Verzicht auf die Formulierung makrohistorischer Strukturen und Prozesse lässt somit das Erkenntnispotenzial, das seinen Ergebnisse innewohnt, nicht zur Entfaltung gelangen. Weder nimmt er dezidiert zu langfristigen Entwicklungen Stellung - nur en passant wird erwähnt, dass die Ergebnisse eine "pacification of the elites" [2] vollauf bestätigen (283) -, noch bringt er neue Hypothesen ins Spiel, obwohl er es selbst als "Aufgabe der neuen Kulturgeschichte" bezeichnet, "eigene Thesen zu Entwicklungsprozessen zu formulieren" (429). Dies ist umso bedauerlicher, als er im Verlauf der Untersuchung immer wieder zeigt, dass er wie nur wenige andere den Brückenschlag von 'Mikro' zu 'Makro' beherrscht.

Der kriminalitätshistorisch Vorgebildete findet in dem Werk ein Juwel, das mit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Forschungslücke schließt. Andere Leser mögen sich hingegen fragen, zu welchem Endzweck es gefertigt wurde. Denn die Kriminalitätsgeschichte, wie alle anderen historischen Teildisziplinen, ist auch und gerade nach ihrer erfolgreichen Etablierung schuldig, sich durch eine über sich selbst hinaus weisende Relevanz zu legitimieren.

Anmerkungen:

[1] Gerd Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn / Berlin 1991.

[2] Im Anschluss an Pieter Spierenburg: Violence and the civilizing process: does it work?, in: CHS 5 (2001), 97-105, hier: 101.

Lars Behrisch