Rezension über:

Sabine Meschkat-Peters: Eisenbahnen und Eisenbahnindustrie in Hannover 1835-1914 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; Bd. 119), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2001, 616 S., 2 Karten, ISBN 978-3-7752-5818-0, EUR 40,00
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Rezension von:
Hans-Werner Hahn
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Werner Hahn: Rezension von: Sabine Meschkat-Peters: Eisenbahnen und Eisenbahnindustrie in Hannover 1835-1914, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/1655.html


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Sabine Meschkat-Peters: Eisenbahnen und Eisenbahnindustrie in Hannover 1835-1914

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Das Königreich Hannover beziehungsweise die spätere preußische Provinz Hannover gehören zu jenen deutschen Gebieten, die in der seit drei Jahrzehnten stark vorangetriebenen, regionalen Industrialisierungsforschung bisher vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben. Das stark agrarisch geprägte Königreich Hannover wurde zu den ökonomisch rückständigen Staaten des Deutschen Bundes gezählt. Dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts auch hier industrielle Zentren herausgebildet hatten, wurde vielfach auf jene staatliche Entwicklungspolitik zurückgeführt, die mit der preußischen Annexion von 1866 auch in Hannover endlich Einzug gefunden habe. Die Verfasserin der anzuzeigenden Monografie, die aus einer von Karl Heinrich Kaufhold betreuten Göttinger Dissertation hervorgegangen ist, hat sich zum Ziel gesetzt, das Bild "fortschrittliches Preußen - rückständiges Hannover" einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Im Mittelpunkt ihrer materialreichen, den Ansätzen der neueren regionalen Industrialisierungsforschung folgenden Untersuchung stehen die Eisenbahnpolitik sowie die Entwicklung und die Auswirkungen der in ihrem Gefolge entstandenen regionalen Eisenbahnindustrie, die auch im hannoverschen Industrialisierungsprozess die Rolle eines Führungssektors übernahm.

Ausgehend von einer sehr anschaulichen, durch ein reichhaltiges statistisches Material untermauerten Darstellung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Königreich Hannover behandelt Meschkat-Peters im ersten Großabschnitt den maßgeblich von der Eisenbahnentwicklung geprägten hannoverschen Aufbruch in das Industriezeitalter. Sie zeigt, dass sich auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens und der Eisenbahnindustrie das Bild "eines verschlafenen und rückständigen Hannovers" nicht bestätigt. Auch wenn sich das neue Verkehrssystem erst nach 1866 voll zu entfalten begann, so waren die Grundlagen dieser Prozesse schon vor der preußischen Annexion geschaffen worden. Obwohl König Ernst August zunächst noch zu den Skeptikern des Bahnbaus zählte, setzte auch in Hannover angesichts der voranschreitenden Eisenbahnplanungen der Nachbarstaaten seit 1840 eine energische Eisenbahnpolitik ein. Die Regierung hatte die Bedeutung der Bahnen für die Wirtschaft des Landes erkannt, erließ 1840 ein Eisenbahngesetz und gründete 1843 die Königlich hannoversche Eisenbahndirektion. Alle projektierten Bahnen sollten als Staatsbahnen gebaut werden, da ausreichendes privates Kapital in Hannover selbst nicht zur Verfügung stand, man aber den Einfluss kapitalkräftiger auswärtiger Unternehmer vermeiden und die Nachfrage nach den zum Bau und Betrieb benötigten Produkte zur Förderung des einheimischen Gewerbes nutzen wollte.

Obwohl auch im Königreich Hannover ein großer Teil des Bahnbedarfs zunächst aus dem westeuropäischen Ausland bezogen werden musste, stellten sich die erhofften Rückwärtskopplungseffekte des Bahnbaus auch hier relativ rasch ein. Am Beispiel der von Georg Egestorff in Linden gegründeten Eisengießerei und Maschinenfabrik zeigt Meschkat-Peters sehr detailliert, wie schnell dieser Betrieb zum Hauptlieferanten der Hannoverschen Staatsbahn avancierte. Ähnliche, wenngleich weniger spektakuläre Entwicklungen vollzogen sich im ebenfalls breit und anschaulich dargestellten Wagonbausektor. Der in den Fünfzigerjahren weiter intensivierte Eisenbahnbau trug mit all diesen Auswirkungen ganz wesentlich dazu bei, dass sich im Umfeld der Hauptstadt Hannover, vor allem im Dorf und späteren Stadtteil Linden, sehr schnell moderne industrielle Strukturen ausbildeten. Das Königreich Hannover war somit, wie Meschkat-Peters überzeugend herausarbeitet, schon vor 1866 auf einen eigenen Industrialisierungspfad eingeschwenkt. Dennoch war die preußische Annexion in wirtschaftlicher Hinsicht aus mehreren Gründen alles andere als folgenlos, beispielsweise wegen des Ausbaus der Wirtschaftsstruktur und der neuen Konkurrenzsituation.

Im zweiten großen Abschnitt der Arbeit wird zunächst das Eisenbahnwesen in der Provinz Hannover zwischen 1866 und 1914 untersucht. Es geht zum einen um die neuen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die preußische Verwaltung löste sich erst einmal von dem im Königreich Hannover praktizierten Staatsbahnbau und entschied sich für ein gemischtes System, in dem Staatsbahnen und Privatbahnen nebeneinander existierten und konkurrierten. Die Privatbahnbauten nahmen gerade nach der Reichsgründung noch einmal stark zu, ehe dann Ende der Siebzigerjahre mit der eisenbahnpolitischen Wende des preußischen Staates alle großen Privat-Gesellschaften verstaatlicht wurden. In der Folgezeit wurden nach der Nebenbahnordnung von 1878 allerdings noch zahlreiche kleine Privatbahnstrecken gebaut, vor allem Kleinbahnen zur besseren Erschließung abgelegener Regionen. Als Ergebnis ihrer umfangreichen Darstellung zum Bahnbau in der Provinz Hannover hält Meschkat-Peters fest, dass sich das Bahnnetz seit der Annexion Hannovers mehr als verfünffachte, und die preußische Verwaltung den spezifischen Interessen der neuen Provinz weitgehend entsprechen konnte. Dennoch führten finanzpolitische Zwänge immer wieder auch zu Verzögerungen notwendiger Maßnahmen. Dies galt vor allem für den von Meschkat-Peters ausführlich dokumentierten Ausbau der Bahnhofsanlagen, die insbesondere in der Hauptstadt Hannover an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dem steigenden Verkehrsaufkommen nicht mehr gewachsen waren. Erst der Druck der Städte Hannover und Linden sowie eine vor den Reichstagswahlen von 1903 aufkommende antipreußische Stimmung führten schließlich seit 1904 zum großzügigen Ausbau der Bahnanlagen.

In ihrem letzten Großkapitel analysiert Meschkat-Peters den Verlauf des regionalen Industrialisierungsprozesses zwischen 1866 und 1914 und fragt dabei vor allem danach, welche Rolle der hannoverschen Eisenbahnindustrie zufiel und welchen Wandlungen sie selbst unter den neuen Bedingungen unterworfen war. Die anhaltende Nachfrage nach neuen Bahnen und der im Raum Hannover seit 1870 einsetzende Aufbau eines öffentlichen Nahverkehrs gaben der einheimischen Maschinenbauindustrie und auch dem Wagenbau nach 1866 weiterhin wichtige Wachstumsimpulse. Die Eingliederung Hannovers in den preußischen Staat hatte freilich zur Folge, dass die Aufträge nun nicht mehr konkurrenzlos den einheimischen Betrieben zugute kamen. Wie sich der neue Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen auswirkte und wie die Unternehmen darauf reagierten, wird mustergültig am Beispiel der Egestorffschen Maschinenfabrik gezeigt. Nachdem der Eisenbahnunternehmer Strousberg die Maschinenfabrik kurzfristig übernommen hatte, wurde sie 1871 in die Hannoversche Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft (Hanomag) umgewandelt. Sie konnte schließlich durch die Spezialisierung auf den Schmalspurlokomotivenbereich eine wichtige ökonomische Nische finden und blieb mit über 4000 Beschäftigten bis zum Ersten Weltkrieg eine der bedeutendsten Fabriken im Raum Hannover. Durch Diversifikation und Neuorientierung auf überregionale Märkte stellte sich auch der Wagen- und Wagonbauproduktion letztlich erfolgreich auf die neuen Konkurrenzbedingungen ein.

Insgesamt hat Meschkat-Peters mit ihrer durch zahlreiche Tabellen und Abbildungen sehr anschaulich gestalteten Darstellung einen wichtigen Beitrag zum Industrialisierungsprozess einer von der neueren Wirtschaftsgeschichte eher unterbelichteten Region geliefert. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass die gewonnenen Ergebnisse zum Bahnbau selbst wie zu seinen Kopplungseffekten am Ende noch einmal mit anderen regionalen Untersuchungen verglichen und die hannoverschen Entwicklungen auf diese Weise noch besser in den gesamten deutschen Industrialisierungsprozess eingeordnet worden wären.

Hans-Werner Hahn