Rezension über:

Christian Vöhringer: Pieter Breugels d. Ä. Landschaft mit pflügendem Bauern und Ikarussturz. Mythenkritik und Kalendermotivik im 16. Jahrhundert, München: Wilhelm Fink 2002, 206 S., 33 s/w-Abb., 8 S. farb. Abb., 1 Falttafel, ISBN 978-3-7705-3686-3, EUR 35,90
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Rezension von:
Markus Paulußen
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Markus Paulußen: Rezension von: Christian Vöhringer: Pieter Breugels d. Ä. Landschaft mit pflügendem Bauern und Ikarussturz. Mythenkritik und Kalendermotivik im 16. Jahrhundert, München: Wilhelm Fink 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2 [15.02.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/02/3206.html


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Christian Vöhringer: Pieter Breugels d. Ä. Landschaft mit pflügendem Bauern und Ikarussturz

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Pieter Bruegels des Älteren Brüssler Landschaft mit pflügendem Bauern und Ikarussturz ist Bruegels einziges mythologisches Gemälde. Die Bruegelforschung hat insbesondere deshalb mit zum Teil höchst unterschiedlichen Deutungsansätzen versucht, die Besonderheit des Bildes zu klären. Vor allem die Ferne und Kleinheit des Sturzes, der sich vor dem Segelschiff auf der Wasseroberfläche abspielt, wurde mit der manieristischen Verkehrung der Bildordnung erklärt. Auch die kleine Leiche im Gebüsch hat durch ihre Rätselhaftigkeit die verschiedenen Deutungen befördert.

Christian Vöhringer geht in seiner Untersuchung einen anderen Weg. Er versucht zunächst, die Bildfindung als Kalenderkomposition zu verstehen "und die Interpretation des von Ovid gegebenen Ikarusstoffes jahreszeitlich zu interpretieren" (9). Die motivische und künstlerische Nähe zu Simon Bening und dessen Buchmalerei-Werkstatt ist dabei ebenso erhellend wie auch seine Untersuchung der mythografischen und literarischen Ikaruskenntnis des 15. und 16. Jahrhunderts, obwohl auch Vöhringer keinen 'Gründungstext' für diese Landschaft belegen kann. Eher kann die Landschaft als Gleichnis verstanden werden, was insbesondere im Vergleich mit den anderen Landschaftsgemälden Bruegels und den Landschaften der frühen Neuzeit deutlich wird.

Mit diesen heterogenen Deutungsansätzen geht Vöhringer innerhalb der Bruegelforschung einen Weg, der mehrere "Hauptaussagen" (10) zulässt, die sich seiner Ansicht nach nicht auf eine gemeinsame Formel bringen lassen. Vielmehr bezeichnet Vöhringer die Reduktion auf eine einzige künstlerische Absicht als Irrglauben. Ob sich daraus allerdings die Schlussfolgerung ableiten lässt, dass die "kunsthistorischen Fragemöglichkeiten um Probleme gesellschaftlicher Unbewußtheit zu erweitern" (10) wären, führt in den Bereich der Spekulation. Der Autor meint damit "verkannte und verdrängte Zusammenhänge" (ebenda), die in der Forschung bisher nicht gesehen wurden. Dennoch, und da muss man die systematische und auch durchaus präzis ausführliche Analyse anerkennen, zeichnet sich Vöhringers Arbeit in erster Linie auf Grund seiner Form-, Motiv- und Textanalyse aus.

Vöhringer hat mit seiner Untersuchung der flämischen Kalenderminiaturen, die sich in kompositorischer und motivischer Nähe zum Ikarussturz befinden, neue Perspektiven für das Verständnis des Bildes eröffnet. Dabei geht es ihm nicht nur um qualitative Argumente, sondern auch um eine quantitative Verbreitung und "zeitliche Stabilität" (177) der Kalendermotive. Diese werden von Bruegel in freier Kombination zu einem Bild verdichtet, das, so Vöhringer, den Ausgangspunkt nicht in einem mythologischen Thema hatte, sondern sich während der Arbeit aus einem Frühjahrsbild entwickelte. Damit stellt Vöhringer die Motivkenntnis Bruegels über dessen ikonologische Gelehrtheit.

Dieser Deutungsansatz steht durchaus in der Tradition einer Svetlana Alpers, die mit ihrer "Kunst der Beschreibung" bereits 1985 eine kunsthistorische Diskussion über die Bedeutung der Ikonographie und die Relevanz solcher Deutungen für die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts auslöste. Schon Alpers hatte in ihrem Text dargestellt, wie die motivgeschichtliche Untersuchung mit einer Studie von Texten und Illustrationen, aber auch den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen, verschränkt werden kann. Und es ist Vöhringer zufolge gerade die Landschaft, die in der Malerei des 16. Jahrhunderts "eine breite Wahl an Versuchsmöglichkeiten" liefert, "denn sie ist eine wenig reglementierte Kunstform, die sich als Nebensache entwickelt" (175).

Christian Vöhringers Dissertation ist vor allen Dingen deshalb lesenswert, weil er nicht mit Kriterien einer Kunstgeschichtsschreibung an die Untersuchung geht, die Kunstwerke in ein Schema aufeinander folgender Entwicklungen einordnet. Er versucht vielmehr, den bestehenden Kompositionsformen, die Bruegel nebeneinander in seinem Werk einsetzt, durch eine differenzierte Analyse gerecht zu werden. Und in dieser Weise lässt sich auch Bruegels erstaunliche Modernität im Umgang mit verschiedenen Traditionen begründen. Vöhringers Schlussfolgerung, Pieter Bruegel der Ältere sei als "Übersetzer zwischen verschiedenen Bereichen der zeitgenössischen Kultur, unterschiedlicher Sprachen und Kulturepochen", der über eine "handwerkliche Vertrautheit mit Sehmustern" (177) verfügte, tätig gewesen, ist nach dieser fundierten Untersuchung kaum noch zu widerlegen.


Markus Paulußen