Rezension über:

Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 36), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, 178 S., ISBN 978-3-412-10500-6, EUR 25,50
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Rezension von:
Andreas Klinger
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Klinger: Rezension von: Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 10 [15.10.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/10/2924.html


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Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse

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Seit längerem schon ist die Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich ein wesentlicher Bestandteil der Frühneuzeitforschung in der Bundesrepublik. Die historiographische Wiederentdeckung des Alten Reiches und besonders die Betonung seiner Funktion als Rechtsverband führte zu einer intensiven Beschäftigung mit dessen obersten Gerichten. Diese waren der augenfälligste Ausdruck des Rechtssystems im Alten Reich. Die Erforschung des Reichskammergerichts in Speyer und Wetzlar ist dabei weitaus stärker vorangeschritten als die des Wiener Reichshofrats. Dieses Ungleichgewicht zu beheben ist das Anliegen eines neuen "Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit", das in loser Institutionalisierung die Forschungen zu beiden Reichsgerichten zusammenführen und diskutieren will. Letztendlich wird es erst durch diese Zusammenschau der beiden höchsten Gerichte möglich sein, umfassende Aussagen über deren politische Bedeutung im Spannungsfeld von Kaiser und Reich zu machen. Die spezielle Reichskammergerichtsforschung ist freilich in festerer Form schon längst institutionalisiert. Seit gut zehn Jahren existiert in Wetzlar eine Forschungsstelle der "Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung", die auch zwei Publikationsreihen herausgibt.

In diesem Kontext entstand die Studie von Anette Baumann. Sie führt eingangs kurz in die Geschichte des Reichskammergerichtsarchivs ein, dessen Neuverzeichnung das Aufblühen der Reichskammergerichtsforschung entscheidend beflügelte. In Fragestellung und Methodik knüpft Anette Baumann explizit ohne jeden Neuansatz an die Arbeiten Filippo Ranieris zur Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert an, deren quantifizierenden Ergebnissen nun diejenigen für das 17. und 18. Jahrhundert hinzugefügt werden. Lediglich einzelne Kategorien wurden auf Grund der durch die fortschreitende Aktenverzeichnung besseren Bedingungen für die Erhebung statistischer Daten differenzierter gestaltet. Annette Baumann erweiterte zudem den Umfang ihrer Stichprobe erheblich. Die Studie beruht auf der Auswertung von etwa 6000 Prozessen, die zirka 7,5 Prozent des angenommenen überlieferten Gesamtbestands ausmachen - eine eindrucksvolle und statistisch relevante Menge. So wartet denn der schmale Band im Text mit einer Fülle von Daten auf, die in einem langen Anhang noch einmal übersichtlich in Tabellen und Diagrammen präsentiert werden.

Zunächst beschäftigt sich die Autorin mit dem Geschäftsanfall des Reichskammergerichts zwischen 1600 und 1806. Demnach erlebte das Gericht zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit jährlich mehr als 500 neuen Prozessen eine Blütezeit, an die es dann nie mehr anknüpfen konnte, sieht man einmal von 1693 ab, dem Jahr der offiziellen Wiedereröffnung des Reichskammergerichts in Wetzlar. Seit dem Beginn der 1630er-Jahre pendelte sich der jährliche Prozessanfall auf einem wesentlich niedrigeren Niveau ein, das mit einigen starken Schwankungen bis zur Translozierung des Gerichts von Speyer nach Wetzlar hielt. Auch über das gesamte 18. Jahrhundert zeigen sich erhebliche Unterschiede in der jährlichen Inanspruchnahme, deren grafische Veranschaulichung (136) aber dennoch einen langsamen Abfall erkennen lässt. Gingen nach der mehrjährigen Stilllegung des Gerichts zu Beginn des Jahrhunderts jährlich noch rund 232 Prozesse ein, so waren es nach der Zäsur des Siebenjährigen Kriegs nur noch gut 150. Die Interpretation dieser quantitativen Befunde fällt eher knapp aus. Die Zahlen bestätigen vor allem die bisherigen Annahmen, dass nämlich neben den konfliktreichen Visitationen des Reichskammergerichts etwa auch die Blockierung der Reichsinstitutionen am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, die Verwüstung der Pfalz oder der Ausbruch des Ersten Schlesischen Kriegs dessen Tätigkeit und Inanspruchnahme erheblich beeinträchtigten. Die interessante Frage, ob der gleichzeitige, seitens des Kaisers begünstigte Bedeutungszuwachs des Reichshofrats nur als eine gewichtige Folge der Krisen des Reichskammergerichts zu gelten habe oder auch zu deren Voraussetzungen gehört, diskutiert Baumann nicht. Allerdings weist die Autorin aber immer wieder auf die starke Konkurrenz beider Gerichte hin.

Das der sehr unterschiedlichen Beanspruchung des Reichskammergerichts durch Kläger aus den einzelnen Reichskreisen gewidmete Kapitel verfährt ähnlich. Die im Anhang sehr anschaulich präsentierten statistischen Ergebnisse werden im Text nach den hauptsächlich klagenden und beklagten Reichsständen etwas genauer aufgeschlüsselt und die möglichen Gründe für die sehr wechselhafte Bedeutung des Reichskammergerichts skizzenhaft erörtert. Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis war demnach unangefochtener Hauptherkunftsort der Kläger. Im Oberrheinischen Kreis, der als einziger Kreis ein steigendes Prozessaufkommen aufweist, waren es interessanterweise die Konflikte des Reichskammergerichtspersonals selbst, die das Gericht immer stärker beschäftigten. In Wetzlar und Umgebung war das Reichskammergericht als Rechtsinstanz zudem sehr populär. Hier lässt sich wohl eine besondere 'gerichtsnahe' Zone ermitteln. Der Obersächsische oder der Bayerische Reichskreis spielten so gut wie keine Rolle im Gesamtaufkommen. Es wäre interessant, mehr darüber zu erfahren, warum dies so war und was dies unter Umständen über die Rolle des Reichskammergerichts für die Integration des Reiches aussagen kann.

Des Weiteren erläutert Anette Baumann vor allem noch die statistischen Befunde zur sozialen Zuordnung der Prozessparteien sowie zu den Streitgegenständen. Mit der differenzierten Aufschlüsselung der Kläger und der Beklagten nach reichsrechtlichem und sozialem Stand betritt die Studie Neuland. Zum Teil unternimmt Baumann es dabei, bisherige Ansichten über das Reichskammergericht zu revidieren. So konstatiert sie etwa, dass die Reichsritter immer stärker als Beisitzer oder gar als Kammerrichter in Erscheinung traten. Eine verstärkte Inanspruchnahme des Reichskammergerichts aber war damit nicht verbunden - offenkundig betrachtete die Reichsritterschaft das Gericht vorrangig als Karriere- und Versorgungsmöglichkeit (69 f). Hier deutet sich eine Neuinterpretation an.

Besonderes Interesse verdienen die Ausführungen zu den Privatparteien, denn damit belegt die Studie noch einmal sehr einleuchtend, dass das Reichskammergericht tatsächlich als mögliche Rechtsinstanz für alle Bewohner des Reichs wahrgenommen wurde und eben nicht nur von den Reichsständen. Untertanen klagten nicht nur als Gemeinden, sondern auch individuell. Privatpersonen stellten bis auf wenige Jahre stets und zum Teil deutlich mehr als die Hälfte der Kläger. Das Reichskammergericht wurde zu dem Ort, an dem jeder Einzelne die Existenz und die Bedeutung der staatlichen Qualitäten des Reichs erfahren konnte. Freilich machten dennoch der Adel und reichsstädtische Bürger, also über die rechtlichen Möglichkeiten zumeist besser informierte und finanziell besser ausgestattete Parteien, den überwiegenden Teil der privaten Kläger aus.

Anette Baumanns Studie ist ein erster, wichtiger Schritt hin zu einer komplexen Analyse der Bedeutung des Reichskammergerichts im 17. und 18. Jahrhundert. Die grundlegenden verfahrens- und sozialstatistischen Daten liegen nun gut aufbereitet und grafisch sehr anschaulich präsentiert vor. Auf der Basis dieser vorrangig quantitativen Ergebnisse kann die Reichskammergerichtsforschung den methodisch gewiss überaus anspruchsvollen Versuch unternehmen, zu qualifizierenden Aussagen zu kommen, die womöglich die gleiche Repräsentativität beanspruchen können.


Andreas Klinger