Rezension über:

Susanne Businger / Nadja Ramsauer: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri (= Beiträge zur Urner Geschichte; Bd. 1), Altdorf: Gisler 1843 2022, 155 S., ISBN 978-3-906932-35-4, CHF 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Sandra Fleischmann
Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Sandra Fleischmann: Rezension von: Susanne Businger / Nadja Ramsauer: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri, Altdorf: Gisler 1843 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38845.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Susanne Businger / Nadja Ramsauer: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri

Textgröße: A A A

Seit 10 Jahren findet in der Schweiz die Aufarbeitung Fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen, administrativer Versorgungen und Fremdplatzierungen (kurz: FSZM) statt. Unter FSZM werden unter anderem behördliche Zwangsmaßnahmen wie die Einweisung in Arbeitsanstalten, Psychiatrien oder die Kindeswegnahme ohne richterliches Urteil verstanden.

Das rezensierte Buch stellt eine der neuesten Studien zu FSZM in der Schweiz dar. Die Autorinnen haben bereits 2019 eine vielbeachtete Studie zur diesbezüglichen Situation im Kanton Zürich publiziert [1], auf die nun die erste großangelegte Untersuchung zum Kanton Uri folgte. Über den Schweizer Kontext hinaus stellt die Studie die Frage nach Motivationen, Zielen und Praktiken des Sozialstaats im 19. und 20. Jahrhundert.

Inhaltlich ist das Buch in drei Abschnitte geteilt: Zunächst erfolgt ein Überblick über die armenpolitischen Maßnahmen mit Zwangscharakter im Kanton zwischen 1906 und 1976. Danach werden die konkreten statistischen Dimensionen der administrativen Versorgungen und Heimplatzierungen zwischen 1906 und 1976 untersucht, gefolgt von einem Ausblick auf das moderne Kindes- und Erwachsenenschutzrecht von der Rechtsreform 1970 bis in das Jahr 2015.

Auf Basis von Gemeindeakten aus zwei Urner Behörden rekonstruieren die Autorinnen den quantitativen Umfang und die behördlichen Begründungen der Versorgungen. Diese betrafen statistisch gesehen mehr Männer als Frauen. Der Höhepunkt der Versorgungen lag in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930ern und der sogenannten Geistigen Landesverteidigung - der 'Rückbesinnung auf schweizerische Werte' zur Abwehr faschistischer und kommunistischer Ideologien - in den 1940ern.

Die Begründungen für Versorgungen folgten primär wirtschaftlichen, nach dem Aufschwung der 1950er auch moralisierenden Mustern (47, 55-57). Diese waren genderspezifisch kodiert: Bei Männern wurde 'Versagen in der Versorgerrolle' als Hauptgrund für Versorgungen angegeben, gefolgt von übermäßigem Alkoholkonsum (73-76), bei Frauen 'schlechte Haushaltsführung' und ein Abweichen von den strikten, katholisch geprägten Normen sexueller Enthaltsamkeit (78-81).

Danach widmet sich die Studie der Situation von versorgten Kindern und Jugendlichen, primär im Kontext der Kantonalen Erziehungsanstalt in Altdorf. Das Heim war eine private Gründung und wurde von den Ingenbohler Schwestern streng katholisch geführt. Der zeitliche Fokus dieses Untersuchungsabschnitts wurde auf die 1960er gelegt. Diese Eingrenzung wurde aufgrund der vorhandenen Interviews mit Betroffenen gewählt, welche in dieser Zeit ihre Kindheit oder Jugend im Kinderheim erlebten. In den Interviews wurden die von Strafe, Disziplin und Religiosität geprägten Erziehungsmethoden der katholischen Heimschwestern sowie der vertuschende Umgang mit psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt im Heim thematisiert (123-129). Bis heute werden die Schicksale der Betroffenen 'totgeschwiegen': Nur wenige Urner:innen waren bereit, sich interviewen zu lassen oder Anträge auf Entschädigung zu stellen. Gründe hierfür sind neben Retraumatisierungen auch das anhaltende Stigma, das sie durch ein Aufwachsen in behördlicher Obhut erfahren haben und teils noch immer erfahren (10).

Auf Basis der entstandenen Interviews, der Akten aus dem Kinderheim Altdorf, aus Arbeitsanstalten, Gemeinde- und Kantonsbehörden kamen die Autorinnen zu vier zentralen Erkenntnissen:

Die zentralen Akteur:innen der FSZM waren lokale Eliten, welche in den Gemeindebehörden, der Armenpflege und der Vormundschaftsbehörde tätig waren. Diese Organe waren in Uri bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit Gemeindeangehörigen anstelle von Fachpersonal besetzt. Sie hatten meist keine adäquate Ausbildung im Bereich von Sozialhilfe oder Armenrecht. Relevant für den Aufbau der Urner Versorgungslandschaft waren auch private Stifter wie Gustav und Karl Muheim sowie die katholische Kirche, welche durch die Ingenbohler Schwestern und das Seraphische Liebeswerk aktiv in den FSZM involviert war.

Dabei kam es vielfach zur Vermischung von Kompetenzen zwischen den Gemeindebehörden und zur Ämterhäufung einzelner Personen, welche in mehreren Gremien saßen und sich quasi selbst kontrollierten. Dies war neben der mangelnden Ausbildung des Behördenpersonals Mitgrund für das vielfache und teils systematische Nichteinhalten von rechtsstaatlichen Prinzipien durch die Urner Behörden (58-60).

Abhängigkeit von Sozialhilfe galt als stigmatisierend und finanziell belastend in den bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sehr armen Gemeinden Uris. Fürsorgerische Zwangsmaßnahmen sollten daher über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg so kostengünstig wie möglich sein - unabhängig davon, ob den Betroffenen damit geholfen war oder nicht (43). Bei versorgten Erwachsenen erfolgten so meist Unterbringungen in Arbeitsanstalten. Heranwachsende wurden in Kinderheimen unter Trägerschaft der Ingenbohler Schwestern platziert, welche kostendeckend arbeiteten und die Minderjährigen zu schweren Haus- und Landwirtschaftsarbeiten heranzogen (123).

Daneben hatte die Versorgungspraxis auch abschreckende Wirkung: Die anhaltende Stigmatisierung der Betroffenen sollte als Drohung an die weitere Gesellschaft gelten, dass nicht normenkonformes Verhalten geahndet würde. Das moralisch-normative Moment gewann ab dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er zunehmend an Relevanz (47).

Das Buch präsentiert diese Erkenntnisse gut strukturiert und stringent auf knapp 150 Seiten. Wichtige Akteur:innen, ihre Handlungslogiken und Praktiken werden klar identifiziert und dargestellt. Die Betroffenen kommen, wann immer möglich, selbst zu Wort. Untermauert wird die Arbeit durch eine Fülle an statistischem Material aus Urner Gemeindearchiven, welches umfassend ausgewertet wurde.

Dabei ergeben sich lediglich drei geringfügige Kritikpunkte:

Das umfangreiche Material hätte teils etwas umfassender visualisiert werden können, etwa durch Grafiken oder Tabellen, welche den Darstellungstexten vorangestellt werden könnten. Diese gingen teils etwas in der Fülle an Text unter. Ein zweiter Kritikpunkt ist die Gliederung des zweiten Kapitels: Hier wurde die Situation der erwachsenen Betroffenen (Teil 2 Kapitel 5-10) jener der betroffenen Kinder vorangestellt (Teil 2 Kapitel 11-12). Die Nachwirkungen der Zwangsmaßnahmen über die Volljährigkeit hinaus konnten durch diese Anordnung nicht nachgezeichnet werden. Dabei waren diese nicht unerheblich, wie ebenfalls aus der Studie hervorgeht: Betroffene wurden teils weiterhin administrativ versorgt oder bei einem späteren Konflikt mit den Armenbehörden durch die Kindheit im Heim stigmatisiert. Die Situation von Pflegekindern bleibt leider ein Desiderat. Dies ist jedoch weniger ein Versäumnis der Autorinnen, als der schwierigen Quellenlage geschuldet.

Insgesamt handelt es sich um ein informatives und aufrüttelndes Buch zu FSZM im Kanton Uri. Die Autorinnen gehen gekonnt und präzise auf die Situation in einem armen, ländlichen und katholisch geprägten Kanton ein. Sie stellen die Besonderheiten der Urner Gesellschaft, aber auch Parallelen zu anderen Kantonen dar. Erwähnenswert ist die Fülle an statistischem Material: Dieses trägt die differenzierte Analyse der Urner Versorgungspraxis, welche den Kern der Studie ausmacht.

Das Buch schließt damit eine weitere Lücke im Bereich der Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen in der Schweiz und fügt sich harmonisch in den bestehenden Forschungsstand ein. Doch das Buch ist nicht nur für die Schweizer Landesgeschichte von Relevanz: Die Aufarbeitung bindet aktuelle Fragestellungen aus Medizin- und Sozialgeschichte mit ein und gibt damit Denkanstöße für Lesende, die sich auch außerhalb des Schweizer Kontextes mit Fürsorge und Zwang im modernen Sozial- und Gesundheitswesen beschäftigen.


Anmerkung:

[1] Susanne Businger / Nadja Ramsauer: "Genügend goldene Freiheit gehabt": Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950 - 1990, Zürich 2019.

Sandra Fleischmann