Rezension über:

Achim Wörn: Der Jischuw an der Oder. Juden in Stettin, 1945-1950 (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; Bd. 54), Marburg: Herder-Institut 2021, XI + 378 S., ISBN 978-3-87969-443-3, EUR 70,00
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Rezension von:
Hanna Kozińska-Witt
Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Hanna Kozińska-Witt: Rezension von: Achim Wörn: Der Jischuw an der Oder. Juden in Stettin, 1945-1950, Marburg: Herder-Institut 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38443.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Achim Wörn: Der Jischuw an der Oder

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Das Buch beruht auf einer Dissertation, die am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin verfasst wurde. Die Arbeit soll "zugleich eine Lokalstudie zur Ansiedlung von Juden in den vormals zu Deutschland gehörenden Gebieten sein und dabei auf die Besonderheiten der Stettiner Ansiedlung eingehen", was durch eine breite Kontextualisierung erreicht werden solle (9). Achim Wörn stützt sich auf die breit angelegte Auswertung zahlreicher Archivalien (in polnischen, amerikanischen und israelischen Archiven), zeitgenössischer Presse und Periodika sowie niedergeschriebener und in Interviews festgehaltener Erinnerungen der Akteure.

Bei Stettin mit seinem Umland handelte es sich anfänglich um ein "Niemandsland", dessen staatliche Zugehörigkeit bis August 1945 noch nicht eindeutig festgelegt war ("Wettlauf um Stettin") und wo die sowjetische Militärverwaltung eine machtvolle Position einnahm. Es gab zwar noch deutsche Einwohner, die man als Arbeitskräfte brauchte, aber ihre Zahl nahm kontinuierlich ab. Schon allein diese Umstände erleichterten Plünderungen und gewaltgeladene Willkür. Unter anderem deswegen war diese Gegend als "Wilder Westen" verschrien und lockte dementsprechend nicht nur Heimatlose oder auf einen Aufstieg Hoffende, sondern auch Abenteurer und Rabauken an.

Juden befanden sich vor allem in der Gruppe der heimatlos Gewordenen, daneben gab es vereinzelt Vorkriegsstettiner. Manche hatten in Verstecken überlebt, die meisten aber kamen aus der Sowjetunion (flight survivors), wo sie den Krieg in den Arbeitslagern in großer Armut und mit schwerer körperlicher Arbeit verbracht hatten. Zuerst kehrten sie für gewöhnlich in ihre Heimatgemeinden zurück, wo sie feststellen mussten, dass ihre Familien ausgelöscht und ihre Besitztümer von Fremden oder Nachbarn "angeeignet" worden waren. Damit wuchs der Druck, sich neue Wohnorte zu suchen. Eine große Gruppe von Juden stammte aus Ostpolen, das jetzt in die Sowjetunion eingegliedert war, was zu mehreren Ausreisewellen nach Polen führte. Diese regionale Abstammung unterschied Juden von den zugereisten Polen, die mehrheitlich aus den angrenzenden großpolnischen Gebieten kamen und junge Männer waren (Gender-Unterschiede werden von Wörn erwähnt, aber nicht analysiert).

Eigentlich wollten die meisten jüdische Ansiedler nach Schlesien gelangen, wo viele Ortschaften gute Perspektiven versprachen: günstige Lebensbedingungen, genug Arbeit und ein reiches jüdisches Kulturleben und Gemeindewesen. Nun aber wurden viele von ihnen nicht nach Schlesien, sondern in die anderen "Wiedergewonnen Gebiete" geschickt. Diese sollten mit ihrer Hilfe neu besiedelt und dabei "re-polonisiert" werden, nicht zuletzt, um auch die Grenzen dauerhaft sichern. Die so intendierte neue Stadtgesellschaft imaginierten die kommunistischen Machthaber als progressiv sozialistisch. Andererseits gab es auch Pläne, dort "ein jüdisches nationales Siedlungsgebiet" zu schaffen (59-63).

Nur war aber ausgerechnet Stettin, schon allein wegen des massiven Zerstörungsgrades, auf diesen Andrang von Zugereisten gar nicht vorbereitet. Die Verwaltung, soweit sie überhaupt existierte, schien überfordert und konnte weder Wohnraum noch Arbeit und in vielen Fällen nicht einmal Lebensmittel oder medizinische Hilfe bereitstellen. Den traumatisierten, gebrechlichen und (häufig an Tuberkulose) erkrankten Neuankömmlingen, die oft nichts besaßen, bot sich keinerlei Perspektive; nicht einmal das Überleben war gesichert. Erschwerend hinzu kamen noch die weit verbreiteten antijüdischen Ressentiments. In dieser bedrohlichen Situation kam den Enttäuschten immerhin die Grenzlage der Stadt, die legere Moral des sowjetischen Militärs und die anfängliche Einstellung der polnischen Verwaltung zugute. All diese Faktoren begünstigten die Ausreise auf deutsches Gebiet und die weitere Emigration. In vielen Fällen handelte es sich dabei eigentlich um eine Familienzusammenführung, da die einzigen lebenden Verwandten schon vor dem Krieg emigriert waren und in ihren neuen Heimatländern lebten. Auf diese Weise verringerte sich die Anzahl der jüdischen Zugereisten in Stettin in hohem Tempo, dauerhaft geblieben sind nur wenige (circa 4 000). Manche von ihnen sind buchstäblich in der Stadt gestrandet, denn die Emigration wurde nach 1947 erschwert und nach 1951 unmöglich gemacht.

Wörns Darstellungsweise besticht mit ihrer Nähe zum alltäglichen Geschehen: Der Verfasser schildert überzeugend die Wege nach Stettin, Motivationen, Wohngegenden und Wohnverhältnisse. Nach der turbulenten Ankunft beschreibt er die Bemühungen der Ankömmlinge, sich das Leben unter den neuen Umständen einzurichten; insbesondere die Suche nach Arbeit und materieller Unterstützung. In beiden Fällen wandten sich die Bedürftigen entweder an die Verwaltung oder aber an die jüdische Gemeinde und ausländische Hilfsorganisationen (Joint Distribution Committee, Landsmannschaften und Privatinitiativen). Wörn weist auf die ungleiche Behandlung der Bedürftigen, den wachsenden Antisemitismus und die Abwehrstrategien hin. Er schildert, wie man im jüdischen Milieu an die Vorkriegsverhältnisse anzuknüpfen versuchte, indem sich in Stettin sowohl eine jüdische Konfessionsgemeinde - und chassidische Stüblech (Gebetsräume) - als auch Parteien (Bund, diverse Zionistenverbände) und Landsmannschaften neu organisierten. Beachtlich waren die Aktionen, die zur Gründung jüdischer Schulen führten, welche wiederum aufgrund der jiddischen Unterrichtssprache rasch polonisiert wurden. Die Programmatik des Bundes, dessen Anhänger eigentlich in Polen bleiben wollten, verlor immer mehr an Rückhalt, während der Zionismus an Bedeutung gewann. Der Verfasser analysiert die Gründung der Genossenschaften und Kibbuzim (sowie weitere Versuche der Abkehr von dem als unproduktiv eingeschätzten Handel). Spannend zu verfolgen sind die Bemühungen, Juden politisch für die Kommunistische Partei einzuspannen und jüdische Organisationen immer strenger zu kontrollieren - ein Prozess, der in den internen Parteiberichten und Zeitungsartikeln gut belegt ist.

Das Buch ist für Migrationsforscher interessant und richtungsweisend, indem es einen in vielfacher Hinsicht misslungenen Versuch, an einem neuen Ort sesshaft zu werden, analysiert. Zudem reiht es sich in die immer größere Zahl von Arbeiten ein, welche die bis dahin wenig erforschten Nachkriegsrealitäten näher beleuchten und die Bedeutung der Zäsur vom Jahr 1948 herausarbeiten. Die Arbeit verdeutlicht, wie sich totalitäre Prozesse auf eine Minderheit auswirkten. Dies geschieht aus der Perspektive einer auf unterschiedliche Weise verwundeten Grenzstadt, die ihre Bevölkerung und ihre Entwicklungsressourcen verloren hat. Die Forschung zu anderen pommerschen Städten und Regionen kann an dieses Buch mit Gewinn anknüpfen. Zusätzlich bietet es eine wertvolle Ergänzung zu Arbeiten, die das Aufblühen jüdischen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Schlesien (zum Beispiel in Dzierżoniów) analysieren; [1] zu fragen wäre, ob Wörns Buch die andere Seite derselben Medaille zeigt. Während Stettin in der Forschung als eine Stadt übermittelt wird, die polnischen Zugereisten durchaus die Perspektive auf einen Aufstieg bot, scheint dies im Falle der jüdischen Überlebenden nicht zutreffend gewesen zu sein.


Anmerkung:

[1] Zum Beispiel.: Kamil Kijek: Aliens in the Land of Piast. The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945-1950, in: Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories, hg. von Tobias Grill, Berlin 2018, 234-255.

Hanna Kozińska-Witt