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Ger Duijzings / Lucie Dušková (eds.): Working At Night. The Temporal Organisation of Labour Across Political and Economic Regimes, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 273 S., 4 Farb-Abb., ISBN 978-3-11-075288-5, EUR 89,95
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Rezension von:
Lukas Doil
Potsdam
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Lukas Doil: Rezension von: Ger Duijzings / Lucie Dušková (eds.): Working At Night. The Temporal Organisation of Labour Across Political and Economic Regimes, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37657.html


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Ger Duijzings / Lucie Dušková (eds.): Working At Night

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Nachtarbeit ist ein Feld von sozialer Ungleichheit, körperlicher Belastung und Unsichtbarkeit, dennoch liegt hierzu kaum historische Forschung vor - was auch im weiteren Sinne für das Verhältnis von Arbeit und Zeit gilt. Der vorliegende Sammelband macht den gelungenen Versuch, das Themenfeld diachron, intersektional und multiperspektivisch mit Blick auf die arbeitenden Subjekte zu erschließen. Die Herausgeberin und der Herausgeber plädieren in einer knappen Einleitung dafür, Nachtarbeit als ein Phänomen der industriellen Moderne - nicht des Kapitalismus im engeren Sinne - zu verstehen und deswegen vergleichend über politische und ökonomische Systeme hinweg zu untersuchen. Vor allem stellen sie verbindende Fragestellungen zum Verhältnis von Arbeit, Zeit und Nacht heraus. In fast allen Beiträgen ist dabei die Frage präsent, wem - unter kapitalistischen, aber auch staatsozialistischen Bedingungen - die eigene Zeit gehört und wer über sie verfügt. Gleiches gilt für die soziale Segregation und Differenzierung durch verschiedene Arbeits- und Zeitrhythmen. Hilfreich ist auch, dass sie die nächtliche Arbeit in eine breitere Kulturgeschichte der Nacht einbetten. Daran angelehnt fassen Lucie Dušková und Ger Duijzings einen Zeitraum seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum digitalen Kapitalismus der Gegenwart ins Auge, um der Verbreitung, Politisierung und Verwissenschaftlichung der Nachtarbeit nachzugehen.

Die beiden Beiträge zu den frühindustriellen Gesellschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Indien und Portugal machen deutlich, dass Nachtarbeit auch ein Produkt der Durchsetzung kapitalistischer Ordnungen in regionalen Kontexten war. Für Bombay weist Arun Kumar nach, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Spinnereien sich die industrielle Arbeitszeitordnung sehr eigensinnig anzueignen wussten. Die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang verordnete Arbeitszeit wurde durch Schlaf, ausgiebige Pausen, Mahlzeiten und unentschuldigtes Fehlen unterlaufen. Die Nacht nutzen viele Beschäftigte nicht nur für die heimische Reproduktion ihrer Arbeitskraft, sondern auch zum Besuch von Nachtschulen. In Rosa Maria Finas Beitrag zu Lissabon scheint die Nachtarbeit als Effekt und Bedingung einer zeitlich verdichteten Industrialisierung auf. Die Öfen und Fabriken trieben Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus dem bäuerlichen Umland und Ausland in die Stadt, die bald als Schichtarbeiter, Wachleute und Gewerbetreibende das Nachtleben prägten und von den Oberschichten im Stile einer Moral Panic als gefährliche Fremde beobachtet wurden.

Im zweiten Abschnitt werden drei Fallbeispiele aus liberalen Marktwirtschaften analysiert. Jakub Rákosníks Beitrag zu Nachtarbeit in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit fokussiert vor allem regulatorische und gewerkschaftliche Perspektiven. Er arbeitet präzise heraus, wie die Nachtarbeit in Anknüpfung an die Berner Konvention von 1906 (die zunächst Arbeiterinnen betraf) in den 1920er Jahren eingeschränkt und überwacht wurde, aber auch wie gegensätzliche betroffene Akteure gegen das Verbot protestierten. Gewerkschaftliche Perspektiven sind auch in Malte Müllers Beitrag zu den "Kontischichten" in der westdeutschen Stahlindustrie präsent. Die Einführung und zeitgenössische Problematisierung von kontinuierlichen Wechselschichten - sodass 24 Stunden am Tag die Maschinen laufen konnten - zeichnet Müller nach, indem er insbesondere die industriesoziologische Begleitforschung in den Vordergrund stellt. So kommen häusliche, familiäre, soziale und gesundheitliche Folgen der Nachtarbeit durch die Linse der Wissenschaft in den Blick. Anja Katharina Peters befragt in ihrem Beitrag Comics der 1970er und 1980er Jahre - vor allem den Marvel Comic "Night Nurse" - als Quelle für die populäre Verarbeitung gegenderter Nachtarbeit und vergleicht die Ergebnisse mit klassischen Quellen, die Aufschluss über das Arbeitsleben von Krankenschwestern geben.

Den folgenden Abschnitt zu autoritären Gesellschaften eröffnet Bridget Kenny mit einer Untersuchung von Ladenöffnungszeiten, Spätschichten und Frauenerwerbsarbeit im südafrikanischen Johannesburg während der Etablierungsphase der Apartheid. Sie zeigt auf, wie Urbanität und lokales Wirtschaften zeitliche Grenzräume (vor allem den Abend) moralisch aufladen können, und wie Diskurse über respektable Frauenarbeit in die rassistische Segregation eingebettet waren. Lucie Duškovás detaillierter Beitrag zur Tschechoslowakei der 1950er Jahre arbeitet das ambivalente Verhältnis der staatssozialistischen Modernisierung zu Nachtschichten heraus. Zunächst als sozialistische Pflicht zum nationalen Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft propagandiert und mit emanzipativen Zuschreibungen aufgewertet, wurde die nächtliche Arbeit bald zum Problem, als sich herausstellte, dass geächtetes Verhalten wie Alkoholismus oder Arbeitsverweigerung in der Nacht schwerer zu kontrollieren waren.

Die zwei Beiträge zum digitalen Kapitalismus der Gegenwart sind ethnographisch und arbeitssoziologisch grundiert. Asya Karaseva und Maria Momzikova untersuchen das Zentrum und die Peripherie der Russischen Republik als Problem für die Zeitsynchronisierung. Besonders wird dabei die Dynamik zwischen konstruierten und staatlich geregelten Zeitzonen sowie ihren Konsequenzen für die Arbeit und den Alltag herausgearbeitet. Als Beispiel für die expandierenden Plattformökonomien stehen in Simiran Lalvanis Aufsatz Lieferdienste im Zentrum. Diese erschließen die Nacht als Konsum- und Arbeitszeit, bearbeiten aber auch damit verbundene Problemwahrnehmungen. Lalvani kann zeigen, dass die Branchenriesen die Sicherheit von Lieferfahrerinnen durch die Nacht gefährdet sehen und damit die Überwachung durch Geolokation rechtfertigen.

Hannah Ahlheim führt in ihrem passend als Epilog angelegten Beitrag durch die amerikanische und deutsche Geschichte des Schlafens und Wachbleibens. Dabei kommt auch der Krieg als Entgrenzungs- und Erprobungsraum von Schlafentzug zur Sprache, der ansonsten im Buch abwesend bleibt. Vor allem für die 1960er bis 1980er Jahre stellt Ahlheim dann die Verkettung von kulturellem Wandel gegenüber dem Schlaf, betrieblicher Rationalisierung und Schlafwissen heraus. Die bis heute prägende Vorstellung einer inneren Uhr wird auf die Entstehung und Popularisierung der Chronobiologie zurückgeführt.

Die Beiträge des Bandes versammeln ein lesenswertes Potpourri aus empirischen Informationen und analytischen Einsichten. Während der Lektüre wird aber deutlich, dass die Gliederung des Bandes anhand von Abschnitten nach politischen und ökonomischen Systemen nicht immer aufgeht. Die Aufteilung wirkt stellenweise beliebig - ist der "global capitalism" des 21. Jahrhunderts nicht auch in der Regel demokratisch-marktwirtschaftlich, war der britische Kolonialstaat in Indien nicht auch "authoritarian"? Dabei fällt ins Gewicht, dass nicht alle Beiträge dezidiert die Spezifika des jeweiligen historischen Kontextes für die Funktion, Form und Genese von Nachtarbeit herausarbeiten. Positiv zu nennen sind hier die Beiträge von Jakub Rákosník, Malte Müller, Bridget Kenny und Lucie Dušková.

Schwer nachzuvollziehen ist zudem die Aufnahme des "Prolog"-Beitrags von Antoine Paris in den Band, bei dem es sich um die Textanalyse einer Nachtarbeits-Metapher aus der Bibel handelt, deren analytischer Mehrwert für das Thema sich nicht erschließt. Das Buch hätte vielmehr von einem synthetisierenden Aufsatz oder einer soziologischen Einführung in das Themenfeld profitiert. Leider zeichnen sich einige Beiträge auch durch holpriges Englisch sowie gelegentliche Tippfehler aus. Ein (Sprach-)Lektorat durch den Verlag hätte dem Sammelband sicher gutgetan. Als Einführung in das Themenfeld leistet der Sammelband dennoch Pionierarbeit. "Working at Night" ist allen ans Herz zu legen, die sich für das Verhältnis von Arbeit, Zeit und Nacht in der Moderne interessieren.

Lukas Doil