Rezension über:

Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch, Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, 773 S., ISBN 978-3-947094-55-4, EUR 30,00
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Rezension von:
Andreas Malycha
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch, Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/34997.html


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Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED

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Den Ausgangspunkt dieses "Lesebuches" bildet die Behauptung, die "Mainstream-Historiker" hätten die Geschichte der DDR von ihrem schmählichen Ende her beschrieben und daher nur den Zweck verfolgt, die Geschichte der SED für den "Massengebrauch" zu delegitimieren und zu verteufeln. Wer diese "Mainstream-Historiker" sind, erfährt der Leser in der Auswahlbibliographie, die Niemann unter der Rubrik B erfasst. Dort heißt es: "Unter B. findet der Leser einige wenige der unzähligen Titel von Autoren, die die Geschichte der SED/DDR im Sinne der geforderten De-Legitimierung parteilich einseitig und deshalb trotz richtiger Fakten verzerrt darstellen" (770). In diesem Sinne ist sogleich der ideologische Kompass benannt, nach dem Niemann seine Darstellung ausrichtet. Nur ausgewählte Autoren schaffen es nach dieser ideologischen Richtschnur in die Kategorie A, die Niemann wie folgt umschreibt: "Unter A. sind die Titel aufgeführt, mit deren Darstellung und Wertung der Autor völlig bzw. vorwiegend konform geht oder zumindest teilweise übereinstimmt" (770). In der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR waren derartige Einteilungen üblich. Es ist schon erstaunlich, dass Niemann auf diese frühere Methode zurückgreift.

Sicherlich ist in den letzten 30 Jahren eine kaum zu überblickende Zahl von Publikationen zur Geschichte der DDR entstanden, die nicht frei von Vorurteilen und Fehldeutungen sind. Niemann wertet die vorliegenden Arbeiten insbesondere von Historikern mit westdeutscher Sozialisation jedoch unisono als politisch dominiert, ideologisch befangen und unvereinbar mit den Erinnerungen und Erfahrungen vieler Ostdeutscher. Selbst einer in der DDR sozialisierten Autorin eines Standardwerkes über den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker [1], das Niemann zunächst als "vorzügliche Darstellung" lobt, unterstellt er Rücksichtnahmen auf deren damaligen Arbeitgeber (756). Womit er vermutlich kenntlich machen will, dass Historiker an Universitäten und außeruniversitären Instituten mit Rücksicht auf ihre Arbeitgeber einige Fakten nicht objektiv interpretieren können.

Vielfach gewinnt man den Eindruck, dass Niemann Annahmen formuliert, die ohne Begründung lediglich in den Raum gestellt werden. So etwa die Behauptung, die Härten und Belastungen sowie die Folgen des Mauerbaus wären von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung mitgetragen worden. Als Indiz dafür wertet Niemann den Umstand, dass keine ernstzunehmenden inneren Unruhen nach dem Mauerbau ausbrachen. Auf dieser Basis beruhen auch andere Hypothesen, so beispielsweise zum 17. Juni 1953. Auffällig ist auch der generelle Verzicht auf die konkrete Auseinandersetzung mit quellengestützten Arbeiten, die zu gegenteiligen Wertungen zu den von Niemann geschilderten Ereignissen sowie behandelten Personen kommen. Sicherlich muss sich eine Darstellung, die sich zu großen Teilen auf biografische Aspekte sowie Lebenserinnerungen stützt, nicht mit einem aufwendigen Aktenstudium beschäftigen. Wünschenswert wäre es aber gewesen, die offensichtliche Diskrepanz zwischen eigenen Erinnerungen und Aktenüberlieferungen zu erklären beziehungsweise aufzulösen.

Das "Lesebuch" stellt die zwei prägenden Parteichefs der SED und deren personelles Umfeld in den Mittelpunkt: Walter Ulbricht und Erich Honecker. Bei der umfänglichen Schilderung der von Ulbricht angestoßenen Reformen der 1960er Jahre stützt sich Niemann überwiegend auf das seit Langem vorliegende Standardwerk von Monika Kaiser. Aufschlussreich sind dabei persönliche Eindrücke Niemanns, die er in diesen Jahren als Mitarbeiter der Abteilung Wissenschaft im Zentralkomitee der SED gewonnen hatte. Er beschreibt ausführlich das Reformpaket der 1960er Jahre und die damit verbundenen Versuche zur Liberalisierung der Jugend- und Kulturpolitik. Wenn die junge Generation für Wissenschaft und Fortschritt gewonnen, mithin für eine Steigerung ihrer Leistungsbereitschaft im Sinne der wissenschaftlich-technischen Revolution motiviert werden sollte, mussten einige ideologische Postulate aus der heißen Phase des "Klassenkampfes" während der 1950er Jahre entschärft werden. Niemann verweist zu Recht darauf, dass auch die Wirtschafts- und Bildungsreform Hoffnungen auf die Reformfähigkeit des Gesellschaftssystems weckten. Mit dem Ende des Prager Frühlings erlosch jedoch in weiten Teilen der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des "real existierenden Sozialismus". Ein langsames Sterben der sozialistischen Ideale begann.

Im deutlichen Kontrast zu den Schilderungen der Reformen Ulbrichts steht die Wertung der Liberalisierung der Kulturpolitik unter Honecker seit seiner Amtsübernahme 1971, die Niemann als Schimäre bezeichnet. Tatsächlich führte die kulturpolitische Liberalisierung zu Beginn der 1970er Jahre jedoch zu einem echten Aufatmen für Künstler und Schriftsteller nach den vorherigen kulturpolitischen Drangsalierungen. Zudem wurde in diesen Jahren eine Generation von jungen SED-Mitgliedern mit weitaus weniger ideologischen Zwängen sozialisiert als noch in den 1950er oder 1960er Jahren. Warum Honecker diese Liberalisierung erst zuließ und dann 1976 abrupt abbrach, ist letztlich nicht völlig geklärt. Das überwiegende Schweigen der SED-Mitglieder war dann ein untrügliches Signal ihrer wachsenden Entpolitisierung, die in der Honecker-Ära zur Normalität des innerparteilichen Lebens gehörte.

Abschließend umschreibt Niemann die historische Leistung der DDR und damit der SED als "antikapitalistischen Modernisierungsversuch in der (zweifellos zwiespältigen) Tradition der Arbeiterbewegung" (727). Mauerfall und friedliche Revolution waren dann folgerichtig für ihn in ihrer "implosiven Wirkung gleich im doppelten Sinne ein konterrevolutionärer Staatsstreich" (724). Die Reformbemühungen nicht weniger SED-Mitglieder im Herbst 1989 werden von ihm als Prozess der Selbstzerstörung abgewertet. Eine wesentliche Ursache für den von ihm beschriebenen Akt der Selbstzerstörung der SED sieht Niemann im Agieren der "jungen Wilden" und der "Neuen Linken", deren Marx-Kenntnisse sich in einem exorbitanten Widerspruch zu ihrem politischen Sachverstand und ihrer Realitätswahrnehmung befunden hätten. Auf diese Weise hätten auch "junge Linksradikale" und "naive Utopisten mit Blochschen Zukunftshoffnungen" zur Selbstzerstörung und damit zum Untergang der SED beigetragen (717). Diese Sicht ist symptomatisch für das ganze "Lesebuch": Mit politischen Zuschreibungen werden komplexe Vorgänge erklärt.

Heinz Niemann hat mit dem "Lesebuch" versucht, der vermeintlichen Delegitimierung der DDR entgegenzutreten und die Politik der SED sowie die Ursachen ihres Scheiterns aus äußeren und inneren Ursachen zu erklären. Das ist durchaus legitim und auch nicht ein exklusives Verdienst Niemanns. Ausgeblendet hat er jedoch die entscheidende Frage, ob nicht die ideologische Konstruktion der "Partei neuen Typus" nach den Vorstellungen Lenins und Stalins als eine der wesentlichen Ursachen benannt werden muss, die zum Scheitern dieses Gesellschaftsmodells geführt hatte. Denn schließlich galt dieses Parteimodell, nach dem die SED schon früh geformt wurde, als der entscheidende Schlüssel, mit dem eine sozialistische Gesellschaft errichtet werden sollte. Dieses Parteimodell war trotz aller Versuche letztlich nicht reformfähig.


Anmerkung:

[1] Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.

Andreas Malycha