Rezension über:

Stephen John Campbell: The endless periphery. Toward a geopolitics of art in Lorenzo Lotto's Italy, Chicago: University of Chicago Press 2019, XXII + 351 S., ISBN 978-0-226-48145-6, USD 70,00
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Rezension von:
Henry Kaap
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Henry Kaap: Rezension von: Stephen John Campbell: The endless periphery. Toward a geopolitics of art in Lorenzo Lotto's Italy, Chicago: University of Chicago Press 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/38454.html


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Stephen John Campbell: The endless periphery

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Stephen J. Campbells Werk "The Endless Periphery: Toward a Geopolitics of Art in Lorenzo Lotto's Italy" stellt eine Neubewertung der italienischen Renaissancekunst dar und hinterfragt das festgefahrene Zentrum-Peripherie-Schema. Der Einfluss von Enrico Castelnuovos und Carlo Ginzburgs Abhandlung "Centro e Periferia" ist deutlich spürbar und verleitet zu einer gesteigerten Begeisterung für Kunstwerke, die aus abgelegenen und bisher meist übersehenen Gegenden des vormodernen Italiens stammen.

Das vorliegende Buch, das bereits Ende 2019 erschienen ist, geht auf sechs Vorlesungen der Louise Smith Bross Lecture Series hervor, die 2012 an der University of Chicago gehalten worden sind. Das Ziel von Campbells Buch ist es, der herkömmlichen Geschichtsschreibung der italienischen Kunst, die seit Giorgio Vasaris "Le vite de' più eccellenti pittori, scultori e architettori" (1550/1568) einen starken Fokus auf die Kunst in und aus Florenz und Rom legt, einen Alternativentwurf nebenanzustellen. Entgegen der traditionellen Klassifizierungen einer althergebrachten Art von Kunstgeschichtsschreibung, die im Besonderen den Einfluss eines Künstlers auf einen anderen verfolgt hat, schlägt Campbell vor, den Stil als geopolitisches Symptom zu betrachten, d.h. das Verständnis der künstlerischen Gestaltung als Ergebnis geografischer und politischer Bedingungen anzuerkennen und mit kunsthistorischen Mitteln herauszustellen. Durch die Linse der Geografie lässt der Autor mehrere detaillierte Einzelstudien zu besonderen Stätten im Süden, im Norden und im Osten der italienischen Halbinsel folgen, die seine These untermauern.

Besteht der Kern von Campbells Bestreben also darin, die vorherrschende Vorstellung von Zentrum und Peripherie in Frage zu stellen, die allzu oft die Beiträge von Künstlern ausblendet, die jenseits der kanonischen künstlerischen Epizentren arbeiten, so plädiert er für einen dynamischen Ansatz bei der Untersuchung vernachlässigter Orte, ihrer Künstler und derer Werke und beleuchtet die Wechselwirkung zwischen Kunstwerken und ihren spezifischen geografischen und politischen Milieus. Der Autor versteht 'Ort' (place) in Bezug auf Bilder folglich dahingehend, dass Bilder nicht nur eine Rolle bei der ästhetischen Gestaltung eines Ortes spielen, sondern - eine soziale Vermittlerrolle einnehmend - immer auch auf die Bedingungen ihres Entstehungsortes reagieren. Diese Vermittlungsfunktion ist für Campbell stets eine politische Operation.

Die Frage danach, inwiefern die strategische Absicht, die Campbell den von ihm behandelten Künstlern unterstellt, zuweilen nicht in Opposition zu kreativen Gestaltungs- oder auch Aushandlungsprozessen zwischen Maler und Auftraggeber steht, muss leider außen vor bleiben. Auch die bewusste Entscheidung des Autors, sich ausschließlich auf die Malerei zu konzentrieren und Skulpturen, Architektur und wissenschaftliche Illustrationen größtenteils zu vernachlässigen, ließe sich durchaus kritisieren, ermöglicht im Rahmen der Abhandlung jedoch eine nuancierte Untersuchung der Malerei an vermeintlich peripheren Orten in der Lombardei, den Marken und auf Sizilien.

In den sechs Kapiteln des Bandes bietet Campbell interessante Fallstudien von Kunstwerken, die ihre Beziehung zu Orten durch stilistische Übersetzungen und Adaptionen geschickt verhandeln. Auf der Grundlage von Netzwerktheorien und der zeitlichen und räumlichen Verankerung von Kunstwerken rekonfiguriert Campbell hierbei das Konzept der Lokalitäten als dynamische Orte vielfältiger Interaktionen. Campbells Fallstudien reichen dabei von den Lombarden Cesare da Sesto und Polidoro da Caravaggio, die in die südlichen Regionen Italiens auswandern und dort Kunstwerke hinterließen, zu Gaudenzio Ferrari und dem Venezianer Lorenzo Lotto, der künstlerisch sowohl in lombardischen Städten als auch in den Marken tätig war. Diese Auswahl erlaubt es dem Autor, verschiedene Formen der Verflechtung mit lokalen Orten vorzuschlagen, die Vasaris beschränkten geographischen Horizont entscheidend korrigieren, und hierin den Pluralismus hervorzuheben, der der italienischen Renaissancekunst innewohnt.

Campbell zeigt die aktive Einbindung der behandelten Maler in überregionale künstlerische, politische und kommerzielle Netzwerke auf und untersucht, wie sie sich für mehrere Orte einsetzten und dadurch zu pan-peninsularen Kreisläufen des künstlerischen Austauschs beitrugen. Am Beispiel von Lorenzo Lottos Martinengo-Colleoni Altarbild, welches zwischen 1513 und 1518 für die Dominikanerkirche Santi Domenico e Stefano in Bergamo geschaffen wurde, stellt Campbell etwa das lokale Verständnis der Stadt Bergamo von sich selbst heraus, die in Lottos Gemälde als ein Knotenpunkt bzw. als Verbindungsort zwischen mehreren anderen Orten vorgestellt wird. Lottos Bildkonzeption, so Campbell, eröffnet Verbindungslinien sowohl zur Kunst Raffaels in Rom als auch zu leonardesken und bramentesken Werken in Mailand, sowie zu Altarbildern in Venedig und an weiteren Orten in der Po-Ebene. Lottos Altarbild definiert der Autor folglich als ein 'Ereignis' (event), dass prägend ist für das 'Ortsbild' Bergamos.

In den einzelnen Kapiteln bespricht Campbell weitere solcher 'Ereignisbilder' ausführlich anhand der 'Wallfahrtslandschaften' des Sacro Monte von Varallo im Piemont und des Marienheiligtums von Loreto in den Marken. Dabei rücken zum einen der Norditaliener Gaudenzio Ferrari, zum anderen abermals Lorenzo Lotto in den Fokus der Untersuchung. Da Letztgenannter an diversen Orten der italienischen Halbinsel im Auftrag religiöser 'Netzwerke' tätig war, eignet er sich im Besonderen, um Campbells Thesen zu unterfüttern und erklärt zugleich die prominente Nennung Lottos im Titel des vorliegenden Buches. Campbells Fokussierung auf religiöse Kunst wird verständlich vor dem Hintergrund einer Zeit der Glaubenskrise und der Reformation, die mit einer Veränderung des Status christlicher Kunst einhergeht, bei dem es sich auch um geopolitische Neuausrichtungen handelt. Das Kapitel zu Girolamo Romanino und Moretto da Brescia, in dem der Autor 'eucharistischen Heterotopien' in der Lombardei nachgeht, fügt sich demnach gut in die übergreifende Narration. Es stellt sich bei dieser starken Fokussierung auf sakrale Kunst jedoch die Frage, inwiefern Campbells Argumentation durch eine intensivere Perspektivierung kommerzieller Netzwerke bereichert worden wäre.

Dies muss einer zukünftigen Studie überlassen werden. Mit "The Endless Periphery" bietet Campbell dennoch eine umfassende Neubewertung der künstlerischen Praxis im vormodernen Italien. Durch seine Neudefinition des Orts-Begriffs und die Betonung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den diversen Lokalitäten bietet der Band einen neuen Blick auf die Kunstgeschichte der italienischen Renaissance und fordert uns Leser:innen auf, das festgefahrene Zentrum-Peripherie-Paradigma neu zu bewerten und die Feinheiten der italienischen Renaissancekunst neu zu betrachten.


Anmerkungen:

[1] Carlo Ginzburg / Enrico Castelnuovo: Centro e periferia nella storia dell'arte italiana, Mailand 2019; erstmals erschienen in Giovanni Previtali et al. (Hg.): Storia dell'arte italiana, Pt. 1, Materiali e problemi; Bd. 1: Questioni e metodi, Turin 1979, 287-352.

[2] Einen vergleichbaren Ansatz verfolgte bereits David Young Kim: The traveling artist in the Italian Renaissance: geography, mobility, and style, New Haven 2014.

[3] Vgl. hierzu auch Henry Kaap: Lorenzo Lotto malt Andrea Odoni. Kunstschaffen und Kunstsammeln zwischen Bildverehrung, Bildskepsis, Bildwitz, Berlin 2021, 116-121.

Henry Kaap