Rezension über:

Tzafrir Barzilay: Poisoned Wells. Accusations, Persecution, and Minorities in Medieval Europe, 1321-1422 (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2022, 303 S., 10 Kt., 2 Tbl., ISBN 978-0-8122-5361-0, EUR 69,95
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Rezension von:
Birgit Wiedl
Institut für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Wiedl: Rezension von: Tzafrir Barzilay: Poisoned Wells. Accusations, Persecution, and Minorities in Medieval Europe, 1321-1422, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/36916.html


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Tzafrir Barzilay: Poisoned Wells

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In den zahlreichen Abhandlungen der letzten Jahrzehnte zu den gegen die Minderheitsgruppen des europäischen Mittelalters erhobenen Anschuldigungen spielte der Vorwurf der Brunnenvergiftung bislang eine eher untergeordnete Rolle. Zwar wurde er in Arbeiten über die Pestzeit allgemeinen Analysen, meist im Kontext genereller antijüdischer Vorstellungen, unterzogen, eine separate und vor allem über die gegen die jüdischen Bewohner gerichteten Pogrome hinausgehende Untersuchung fehlte bislang. Diese Lücke ist dank des vorliegenden Werks, in dem der Autor in sechs chronologisch aufgebauten Kapiteln (plus Einleitung, Schlussbemerkung und Anhang) den Fragen nach Ursprüngen, Ausbreitung, Variationen, Zielgruppen und Abklingen des Brunnenvergiftungstopos nachgeht (2) und damit erstmals den Blick direkt auf Inhalt und Instrumentalisierung der Vorwürfe richtet, zumindest ein gutes Stück geschlossen worden, während das Werk gleichzeitig zu neuen Fragestellungen anregt.

Im ersten Kapitel gibt Barzilay einen kurzen Einblick in die Entstehung des Brunnenvergiftungsmythos, der seiner Interpretation nach vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen ist: das verstärkte Auftreten von Gift in medizinischen Texten, individuelle Vergiftungsfälle und deren politische Instrumentalisierung, sowie die rapide zunehmende Urbanisierung, deren Gefahr der Wasserverunreinigung beispielsweise durch Gerber oder Fischfang mittels Pisciziden auch den Zeitgenossen bewusst war (13). Während diese Umstände allerdings nur als grundlegende Faktoren, nicht aber als Ursachen der Entstehung angesehen werden, fokussiert Barzilay weiters auf den antijüdischen Topos des die Christen zu vergiften trachtenden Juden sowie die Leprakranken, die trotz ihres stets ambivalenten Status die erste Minderheit waren, gegen die diese Anschuldigung systematisch erhoben wurde (27).

Im zweiten Kapitel analysiert Barzilay die erste Welle der Beschuldigungen, die 1321/22 in Südfrankreich und Aragon zur Ermordung zahlreicher Leprakranker führte. Die Ursachen für diese Verfolgungen sieht er einerseits in der generellen Verschlechterung der Einstellung gegenüber Leprakranken, andererseits in kleinräumigen politisch-ökonomischen Aktionen, letztere vor allem in Versuchen lokaler Autoritäten, die Vermögen der im Lauf des 13. Jahrhunderts unter kommunale Kontrolle gelangten Leprosorien an sich zu ziehen. Medizinische Theorien wie die Übertragung von Lepra durch kontaminiertes Wasser verstärkten das Misstrauen; die rasche Verbreitung des Mythos trug zu einer Ausweitung der Vorwürfe - etwa auf Verschwörung aller Leprakranken, Kreuz- und Hostienschändung - bei, die Barzilay in einer auf Inquisitionsverhören basierenden Tabelle (53f.) für die Wochen zwischen dem 19. April und dem 6. Juli 1321 beeindruckend aufbereitet. Der aus dem Quellenmaterial herausgearbeitete Detailreichtum wie etwa ein angebliches Giftrezept (51), stellt generell eine der Stärken des Buches dar.

Das dritte Kapitel präsentiert Barzilay überzeugend als "logische" Weiterentwicklung der Ausdehnung der Vorwürfe auf andere Minderheiten wie Fremde, Muslime und (vor allem) Juden. Besonders hervorzuheben ist seine lokale Differenzierung - etwa der Vergleich der Judenpogrome in Frankreich und Aragon 1321 (86f.) - und seine stete Suche nach Ursache und Wirkung ("whether popular allegations influenced the authorities, or the investigation caused popular hatred", 85), ohne dabei in vereinfachende Antworten zu verfallen; auch die Frage nach zeitgenössischen Zweifeln an dem Vorwurf werden wiederholt thematisiert. Aus der lokalen Sicht argumentiert er auch gegen die allgemeine Annahme, dass es sich bei den Verfolgungen der Leprakranken und Juden um zwei sowohl zeitlich als auch geographisch (nämlich Aragon und Zentral/Nordfrankreich) getrennte Pogrome handelte, die demzufolge auch getrennt analysiert werden müssten.

Kapitel vier und fünf sind der Pestzeit gewidmet. In Kapitel vier geht Barzilay der Frage nach der rapiden Ausbreitung der Vorwürfe und deren unterschiedlichen Akteuren nach (unterstützt durch Karten), während Kapitel fünf sich auf die antijüdischen Vorstellungen und Gewalttaten fokussiert, die in der Schweiz und im Reich dominierten. Ausgehend von der Debatte Haverkamp/Graus um individuelle Betrachtung versus allgemeine Grundzüge betont Barzilay auch hier die Wichtigkeit lokaler Differenzierung, der er mit Detailstudien über die Region Genfersee (136-143) und Straßburg (143-154) auch nachkommt, wobei besonders der Informationsaustausch überzeugend nachvollzogen wird (Karte 8, 145), während die Darstellung der weiteren Ausbreitung im deutschsprachigen Gebiet mit nur kurzen Vergleichen (154-163) leider eher unbefriedigend bleibt.

Kapitel sechs thematisiert das Wiederauftreten bis zum letztendlichen Verschwinden des Topos, der sich einerseits als politisches Instrument für die lokalen Autoritäten als wenig effektiv erwiesen hatte, und andererseits durch "wirksamere" Vorwürfe wie Ritualmord und Hostienschändung verdrängt worden war (die auch den "Bonus" neuer Pilgerstätten boten, 184). Gegen den Buchtitel, in dem die Bulle Martins V. von 1422 als Schlussstrich dient, greift Barzilay mit einigen Beispielen bis ins späte 15. Jahrhundert aus, die allerdings ein wenig fragmentarisch wirken.

Die Hauptstärke des Werks liegt in seiner extreme Detailgenauigkeit und der präzisen Sicht auf die jeweiligen lokalen Akteure und deren unterschiedliche Motive, mit einer gleichzeitigen Einbettung in die aktuellen Forschungsdiskussionen zu Minderheiten und Antijudaismus. Auch der von Barzilay selbst (4) als kritisch gesehene chronologische Aufbau ist als positiv (und nicht positivistisch!) zu werten, da gerade dadurch die Entwicklungen überzeugend dargestellt werden können, etwa die Bedeutung sich generell neu entwickelnder Machtstrukturen, die durch säkulare Untersuchungen, Gerichtsverfahren und Massenhinrichtungen eine großräumige Verfolgung von Minderheiten "erlaubte" (196).

In diesem Detailreichtum fallen einige oberflächliche Erklärungen umso mehr auf. So wird etwa der Umstand, dass es in Frankreich und Aragon zwischen 1321 und 1348 nicht zu Beschuldigungen kam, mit der nur bedingt befriedigenden These erklärt, dass es kaum mehr Leprakranke und Juden gegeben habe (98). Dies widerspricht Barzilays eigener Feststellung, dass Pilger, (wandernde) Kleriker und Bettler 1347 die ersten Opfer gewesen seien (100, 103, 189). Vor allem aber kritisch zu betrachten ist der Umgang mit dem deutschsprachigen Raum, der nicht nur "zu kurz kommt", sondern zudem - wie auch aus der Literaturliste evident - auf weit weniger solider Basis beruht als die französischen Teile; Erkenntnisse wie ein Auftreten antijüdischer Pogrome vor dem (oder ohne ein) Eintreffen der Pest finden sich bereits wiederholt in älteren Werken. [1] Barzilays Aussage, dass aus der Menge der Pogrome im deutschsprachigen Raum (ca. 350) sich nur für wenige konkrete Aussagen über aktuelle Hintergründe treffen lassen (135), ist nur bedingt zuzustimmen, eine detaillierte Aufarbeitung der archivalischen Quellen über chronikale Werke hinaus wäre aber im Rahmen eines solchen Werkes kaum zu leisten gewesen - fast hätte man sich daher eine Grenzziehung bei Straßburg gewünscht. [2]

Lesbar und im besten Sinn erzählend geschrieben, ist das Werk, für das der Autor 2023 zurecht den Salo Baron-Preis der American Academy for Jewish Research (https://aajr.org/funding/baron-book-prize/2022-baron-book-prize-awarded-tzafrir-barzilay/) gewonnen hat, eine Bereicherung für jegliche Mittelalterforschung und kann - und sollte - auch in der Lehre eingesetzt werden.


Anmerkungen:

[1] Etwa Gerd Mentgen: Die Pest-Pandemie und die Judenpogrome der Jahre 1348-1350/51, in: Heilig Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806, hgg. von Hans Ottomeyer / Jutta Götzmann, Teilbd. 1, Dresden 2006, 299-310.

[2] Hier soll etwa auf das Projekt Resilienz am Arye-Maimon-Institut in Trier verwiesen werden (https://for2539-resilienz.uni-trier.de/projekt-1-aschkenasische-juden-im-spaeten-mittelalter-bewaeltigungs-anpassungs-und-transformationspotentiale-regionaler-netzwerke/), in dessen Rahmen auch detailgenau die Folgen der Pestpogrome aufgearbeitet werden.

Birgit Wiedl