Rezension über:

Marine Fiedler: Von Hamburg nach Singapur. Translokale Erfahrungen einer Hamburger Kaufmannsfamilie in Zeiten der Globalisierung (1765-1914) (= Peripherien - Peripheries. Beiträge zur Europäischen und Globalgeschichte - Contributions to European and Global History; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 517 S., 14 Abb., ISBN 978-3-412-52433-3, EUR 90,00
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Rezension von:
Dominik Kloss
Fachbereich Geschichte, Arbeitsbereich Alte Geschichte, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Dominik Kloss: Rezension von: Marine Fiedler: Von Hamburg nach Singapur. Translokale Erfahrungen einer Hamburger Kaufmannsfamilie in Zeiten der Globalisierung (1765-1914), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/36726.html


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Marine Fiedler: Von Hamburg nach Singapur

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Einen Hamburger Kaufmann in den wichtigen Hafenstädten Südostasiens anzutreffen, war ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kein Kuriosum mehr. Dazu trug nicht unwesentlich die 1840 in Singapur gegründete Handelsfirma Behn, Meyer & Co. bei, deren miteinander verschwägerte Gründerfamilien infolge zu den Kolonialeliten in dieser Weltgegend zählen sollten. Die Auseinandersetzung einer dieser Familien - Meyer bzw. später Lorenz-Meyer - mit dem eigenen Tun begann bereits zeitnah mit einer 1861 als Auftragsarbeit entstandenen Chronik. Das damit etablierte Narrativ einer durch einzelne Hauptdarsteller vorangetriebenen ökonomischen Erfolgserzählung zieht sich grundsätzlich über weitere Veröffentlichungen im Laufe des 20. Jahrhunderts bis hin zur vom noch immer global agierenden Unternehmen herausgegebenen Festschrift 2018. [1] Wenn wie im Falle von Eduard Lorenz Lorenz-Meyer (1856-1926) hingegen dessen mäzenatisches Engagement für Hamburg angemessen in den Vordergrund gerückt wurde [2], so blieben auch hier in Bezug auf die idealisierend und verkürzend dargestellten überseeischen Lebensstationen einige Leerstellen zu attestieren.

Mit ihrer 2020 verteidigten und im Folgejahr durch die Philosophisch-historische Fakultät der Universität Bern preisgewürdigten Dissertation setzt Marine Fiedler ebendort an, reiht sich allerdings trotz der gewählten (und überlieferungsbedingt gebotenen) "akteurszentrierten Perspektive" (26) nicht unversehens in die bisherigen Herangehensweisen ein. Ihr geht es vielmehr darum, vergleichend und mittels sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen zu zeigen, wie einzelne Familienmitglieder der Meyer auf ein wachsendes Mobilitätsspektrum in einem sich stetig erweiternden räumlichen Umfeld reagierten und wie sie vor diesem Hintergrund interagierten. Schöpfen konnte Fiedler dafür aus einem umfangreichen, im Wesentlichen im Hamburger Staatsarchiv aufbewahrten Quellenbestand, welcher u.a. neben Reise- und Bordtagebüchern mehr als 1700 Familienbriefe umfasst. Hierdurch war nachzuzeichnen, welche "Erfahrungen der Globalisierungsprozesse und der werdenden Globalität" (12) die ursprünglich noch vor der Mitte des 18. Jahrhunderts durch den fränkischen Weinhändler Johann Lorenz Meyer in Hamburg etablierte Kaufmannsfamilie in den darauffolgenden fünf Generationen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gemacht hat.

Im ersten Ihrer drei übergeordneten Abschnitte - etwa die erste Hälfte des knapp 150 Jahre umfassenden Gesamtzeitraumes abdeckend - widmet sich Fiedler zunächst dem europäischen Horizont. Die französische Hafenstadt Bordeaux bildete dabei (wie die Autorin bereits 2014 in einer Masterarbeit beleuchtet hatte) eine erste wichtige Zwischenstation für das überregionale Agieren der Hamburger Kaufmannsfamilie. Seit der 1772 an der Garonne erfolgten Filialgründung der Weinhandlung waren immer wieder Familienmitglieder in unterschiedlicher Funktion als Reisende vor Ort oder siedelten sich dauerhaft dort an. Konfessionsübergreifende Eheschließungen, Französischkenntnisse und politische Anpassungsfähigkeit trugen indes dazu bei, hier wie auch in Hamburg "die Wahrscheinlichkeit des Ausdrucks von Vorurteilen und dichotomischen Reaktionen" (123) zu vermindern. Insbesondere in den Zeiten der Revolutionskriege und der anschließenden Restauration waren unter den Meyer verschiedene Loyalitäten in Form von "Resignation, Kooperation oder aktivem Widerstand" möglich, wurden aber zugleich "von der Familie pragmatisch toleriert, solange sie der Erhaltung des Handels und der bürgerlichen Ordnung nicht schadeten" (448).

Verdichtet auf die beiden Dekaden um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt der zweite Abschnitt verschiedene Momente und Umgebungen auf, die den Meyer auf dem Weg nach und dann in Singapur erstmalig ein "Globales Erfassen" ermöglichten. Der besondere Charakter als "Schwellenphase" kam dabei vor allem der seinerzeit noch bis zu vier Monate währenden Schiffspassage zu, wie Fiedler anschaulich anhand von Aufzeichnungen der Geschwister Valentin Lorenz, Arnold Otto und Caroline verdeutlicht. Deren Versuche, an Bord "den Alltag nach den bürgerlichen Werten der schöpferischen Tätigkeit und der fortwährenden Bildung wie auf dem Festland zu organisieren" (189), wurden durch die mit der Nähe zum Zielort zunehmenden exotischen Impressionen konterkariert. In der neuen Umgebung besaß das nötige Sprachenerlernen nunmehr eine "identitätsstiftende Dimension" und indem die Geschwister "Fremdwörter auf Malaiisch benutzten, [...] nahmen [sie] nicht nur den Unterschied zwischen den Sprachen wahr, sondern fingen auch an, sich von ihren hamburgischen Lesern zu distanzieren und sich den in Südostasien lebenden Europäern anzunähern" (202). Trotz der schnellen Anpassung der Meyer an dortige exklusive Gemeinschaften und deren Gepflogenheiten erleichterte allerdings das nachmalig gepflegte Nebeneinander von fremdländischen und heimatverbundenen Memorabilien sowohl im Haus in Singapur als auch am Hamburger Stammsitz transkulturelle Austauschprozesse. Dies führte "nicht nur für die Rückkehrenden selbst, sondern auch für die in Hamburg verbliebenen Familienmitglieder zu einer generationsübergreifenden sinnstiftenden Erfahrung" (325).

"Das Globale verinnerlichen" war mehreren Angehörigen der Meyer - so Fiedler in ihrem letzten Abschnitt - insbesondere durch eine "Vervielfachung der Mobilitätserfahrungen" (332) ab den 1870er Jahren möglich geworden. Vom Leben in der Ferne zeugende Souvenirs, Aquarelle, Fotografien oder aber Briefmarken als Tausch- und Sammelobjekte stärkten die Bindungen der inzwischen auf mehreren Kontinenten vertretenen Familienangehörigen ebenso wie unter ihnen zirkulierende hamburgische Zeitungen. Die Hansestadt blieb "der Dreh- und Angelpunkt der Familie - sei es für die Pflege der Verwandtschaftsnetzwerke, die Entwicklung globaler Handelsprojekte, das Familienunternehmen und das gesamte Familienbild" (378).

Die erwartbaren Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit einer wiederholt kinderreichen sowie bei der traditionellen Namensvergabe sich auf wenige Varianten beschränkenden Kaufmannsdynastie umschifft Fiedler, indem sie einige männliche Protagonisten als Stellvertreter einer bestimmten epochalen Prägung hervorhebt - ohne jedoch der Versuchung zu erliegen, diese zu sehr in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung zu rücken. Immer wieder finden so auch im Quellenkorpus unterrepräsentierte Personen wie weibliche Familienangehörige, weniger erfolgreiche Kaufleute und fremdländische Bezugspersonen Berücksichtigung - etwa die sogenannten ayahs als malaiische Ammen der Familie (294-296) - und geben Hinweise auf lohnende Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen (454). Verwechslungsträchtige Familienangehörige der Meyer werden stellenweise durch die Nennung der Lebensdaten näher konkretisiert, können ansonsten aber mittels eines hilfreichen Anhangs (der die üblichen Verzeichnisse nicht nur um Personen- und Ortsregister, sondern auch um Stammbäume, Karten und Tabellen ergänzt) leicht eingeordnet werden (457-517).

Insgesamt hat Marine Fiedler demnach eine von Redundanzen weitgehend entlastete, wohlkomponierte und lesenswerte Abhandlung verfasst, mit der sie ihre These, "dass die Meyer primär "translokal" handelten und dachten" (451) anhand zahlreicher Beispiele überzeugend präsentiert. Es wäre damit festzuhalten, dass die von Hafenstädten und deren Hinterland - und somit vorrangig lokal - geprägten Erfahrungshorizonte für diese Hamburger Kaufleute ihre Relevanz im langen 19. Jahrhundert durchgehend beibehielten - ungeachtet einer familienintern "zunehmenden thematischen und materiellen Präsenz des Globalen im Alltag" (449). Innerhalb des aktuellen - und konfliktträchtigen - Forschungsfeldes, welches vergleichbar ambivalenten Genealogien und Viten in kolonialen Zusammenhängen zuweilen etwas einseitig nachspürt, stellt dieser Ansatz zweifellos eine bereichernde Perspektive dar.


Anmerkungen:

[1] Fritz Kleinsteuber: Merchants beyond the Seas. Die Geschichte des Handelshauses Behn Meyer, Hamburg 2018.

[2] Johannes Gerhardt: Eduard Lorenz Lorenz-Meyer. Ein Hamburger Kaufmann und Künstler (= Mäzene für Wissenschaft; Bd. 3), Hamburg 2007.

Dominik Kloss