Rezension über:

Jan Reitzner: Die Verba Seniorum in der monastischen Welt Frankreichs im 12. Jahrhundert. reformare oder meliorare? (= Archa Verbi. Subsidia; Bd. 21), Münster: Aschendorff 2022, 612 S., 9 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-10327-2, EUR 79,00
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Rezension von:
Ekaterina Novokhatko
Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Ekaterina Novokhatko: Rezension von: Jan Reitzner: Die Verba Seniorum in der monastischen Welt Frankreichs im 12. Jahrhundert. reformare oder meliorare?, Münster: Aschendorff 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/37642.html


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Jan Reitzner: Die Verba Seniorum in der monastischen Welt Frankreichs im 12. Jahrhundert

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Mit einem solchen Titel lenkt der junge Wissenschaftler und Vikar Jan Reitzner unsere Aufmerksamkeit sofort auf zwei 'Trendthemen' in der mediävistischen Beschäftigung mit dem 11. und 12. Jahrhundert. Das erste betrifft den Eckpfeiler des mittelalterlichen religiösen Denkens - die Textsammlung der Vitae Patrum (weiterhin - VP), oder präziser eines seiner wichtigen Strukturelemente - die Apophthegmata (Sprüche der Väter), die in ihrer lateinischen Fassung Verba Seniorum (weiterhin - VS) genannt werden. Das zweite betrifft den Begriff der Reform und der Tradition sowie Überlegungen zum 'Neuen' gegenüber dem 'Alten', die sich in anhaltende historiographische Debatten über das Verständnis von kirchlichen und politischen Reformen im Mittelalter einreihen. Indem er die Rezeption der VS in der Klosterliteratur der "Zenit"-Konjunktur (374) des 12. Jahrhunderts untersucht, konzentriert sich Reitzner auf die Klöster im französischem Gebiet (hauptsächlich Benediktiner und Zisterzienser) und verwendet die Begriffe reformare / meliorare im Hinblick auf die beiden unterschiedlichen Arten der VS-Rezeption durch Bernhard von Clairvaux und Petrus Venerabilis (225). Das Vorgehen auf der Grundlage eines umfangreichen Textkorpus (etwa 100 Handschriften) und klar abgesteckter geografischer und chronologischer Grenzen sowie konkreter Gliederungsfragen belegt den Kenntnisreichtum des Autors.

Reitzner erwähnt fairerweise, dass die VS noch viele Forschungslücken aufweisen, insbesondere zeigt er manchen Mangel in der 1972 erschienenen Arbeit von C. Battle (6-7). Trotz verschiedener Studien und kritischer Editionen einiger Textteile der VP (darunter P. Bertrand, G. Freire, E. Schulz-Flügel, A. Wellhausen) wird die Notwendigkeit neuer kritischer Editionen sowie stärker kontextualisierter Untersuchungen aufgrund ihrer primären Bedeutung für das mittelalterliche religiöse Erbe benannt. Reitzers Buch bietet vor diesem Hintergrund einen vielversprechenden und dringend benötigten Überblick.

Um die Antwort auf die Frage, welche Rolle die VS in der klösterlichen Welt des 12. Jahrhunderts spielten (3), zu finden, gliedert Reitzner seine Arbeit in sieben Kapitel, wobei die Kapitel 1-3 als Einführung in die kulturhistorische Geschichte der Texte fungieren. Hier erläutert er auch die Entstehung der VP und der VS-Sammlung, den Stand der Forschung, die Rezeption der VS in der Regel des heiligen Benedikt und gibt einen Überblick über die Textgeschichte vor dem 12. Jahrhundert.

Die Kapitel 4-6 bilden den Hauptteil seiner Studie. Hier analysiert er die Rezeption der VS innerhalb der benediktinischen und zisterziensischen Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung ihrer Verwendung in den Schriften des Petrus Venerabilis und Bernhards von Clairvaux und dann die späteren Bezüge auf die VS am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Kapitel 7 enthält zusammenfassende Schlussbetrachtungen, welche wichtige Strukturen pointiert darstellen.

In Kapitel 1 beschreibt der Autor die lateinische Tradition der VS anhand der Typologie der Texte. Indem er auf die Variabilität der VS eingeht (die älteste Sammlung mit Pelagius und Johannes und die nachfolgenden), modifiziert Reitzner klugerweise J.-Cl. Guys Ansatz hinsichtlich der Besonderheiten des lateinischen Vokabulars und des Gebrauchs einiger Begriffe in der VS (41-45). Kapitel 2 untersucht die Rezeption der VS in der Regel des heiligen Benedikt, die sowohl für Benediktiner als auch für Zisterzienser die entscheidende mittelalterliche Quelle mit "fragloser Bedeutung" (46) war. Die Rezeption innerhalb der Regel gab den Mönchen Orientierung (86), und umgekehrt war es die Regel, die ihnen die Bedeutung der VS aufzeigte (87).

Da im 11. Jahrhundert die VS zu den VP gehörten (93), gibt Reitzner in Kapitel 3 einen Überblick über die Entwicklung der VP bis ins 12. Jahrhundert und stellt verschiedene Texte und vitae sanctorum vor, die im 11. Jahrhundert häufig im kodikologischen Kontext auftraten (112-128). Vor diesem Hintergrund beschreibt Reitzner den theologischen und historischen Kontext der hochmittelalterlichen religiösen Institutionen.

Die zwei folgenden Kapitel veranschaulichen die Hauptargumentation und sind ähnlich strukturiert. Aufbauend auf der sorgfältig zusammengetragenen handschriftlichen Überlieferung folgt die Analyse der zeitgenössischen Rezeption der VS in verschiedenen Gemeinschaften. Das Kapitel 4 konzentriert sich dabei auf die "traditionellen Klöster", die mehrere Dutzend Mönche zählenden und bereits zu Beginn des 11. Jahrhunderts bestehenden (9, 153) (Benediktiner-)Klöster, ergänzt durch die Rezeption der VS durch Petrus Venerabilis. Reitzner beschreibt ihn als einen Reformer, der aber ein "meliorare statt reformare" (225) bevorzugte. Die VS dienten für Petrus eher als empfehlende Anweisung zu eremitischer Askese und weniger als Aufforderung (243).

In Kapitel 5 zeigt Reitzner, dass die VS in Zisterzienserhandschriften zu meditativen Reflexionen ermunterten (261-62), in anderen Literaturgattungen Verwendung fanden und die persönliche Frömmigkeit erhöhten (264). Bernhards Rezeption der VS, so folgert Reitzner, leitete hingegen zu einer entschiedeneren Askese an (335), da Bernhard die VS "modernisiert" habe, indem er den "alten" Kontext ausgeklammert und den Abstand zwischen der Zeit der Kirchenväter und seiner Zeitgenossenschaft entfernt habe (335-37).

Kapitel 6 analysiert den Wandel der VS-Rezeption in Handschriften aus späterer Zeit (Ende des 12./13. Jhd.), der vor allem auf äußere und innere Veränderungen, die zwischenzeitlich im Zisterzienserorden eingetreten sind, zurückzuführen ist (339-342). Zu den inneren Veränderungen zählt er z.B. die verstärkte Hinwendung zur weiblichen Frömmigkeit oder die inhaltliche Verschiebung hin zur Kontemplation (367). Kapitel 7 fasst die wichtigsten Argumente zusammen und gibt einen Ausblick auf andere Texte und die Rezeption durch weitere zeitgenössische Autoren (Sigebert von Gembloux, Petrus Cantor und Petrus Abelard). Wichtig erscheint Reitzner eine "Pluralisierung der Kontexte" (370), ausgelöst durch das jeweilige klösterliche Umfeld des Autors der konkreten Textfassung (395). Die plausible "Hauptthese" von Reitzner zu den beiden unterschiedlichen Rezeptionsweisen der VS durch das Umfeld von Peter und Bernhard sind in der Tabelle anschaulich zusammengefasst (385-86).

Die als Forschungsmonographie publizierte Promotionsarbeit besitzt an einigen Stellen eine immer noch recht schulische Schreibweise. Das schmälert allerdings nicht die Bedeutung der Forschungsideen, die der Autor tiefgründig entwickelt, sondern betrifft den zuweilen leicht repetitiven Stil. Einige Erklärungen oder Thesen wirken deswegen zu defensiv (26 n. 85, 155, 249, 379, 383, 395). Darüber hinaus wären ein tieferer Einblick in die aktuellen historischen Debatten über komplexe Begriffe, wie die Reconquista (174), das "apokalyptische Jahr" 1000 (198), die amicitia (214) und Verweise auf wichtige Forschungsstimmen, wie H. Leyser und ihre Deutung des Wüstenmythos, willkommen. Dies könnte jedoch auf die theologische Bildung des Autors zurückzuführen sein. Zudem wären größere Tafeln für die Abbildungen der Handschriften wünschenswert - sie sind dem Text lediglich in einem kleinen Format beigefügt.

Abgesehen von diesen nur geringen Kritikpunkten ist Reitzners sorgfältige und interdisziplinär angelegte Studie zur aktuellen Forschung über die VP kaum zu unterschätzen. Der Autor operiert gekonnt mit historischen und philologischen Ansätzen, achtet auf den soziohistorischen und kodikologischen Kontext und liefert vollständige Anhänge mit detaillierten Handschriftenbeschreibungen. Reitzners feinsinnige Analyse der mittelalterlichen kirchlichen Lehrsätze, seine sorgfältige Erläuterung der verwendeten Begriffe zeugen von einer geistigen Durchdringung des immensen Handschriftenmaterials. Mit überzeugender Kritik am Stand der Wissenschaft schafft er es, neue Bezüge zu den VS bei mittelalterlichen Autoren zu finden. Reitzners beeindruckende Untersuchung ist somit zweifellos ein bedeutender Beitrag zum Studium einer der ältesten und stärksten Säulen des mittelalterlichen religiösen Denkens.

Ekaterina Novokhatko