Rezension über:

Felix Jeschke: Iron Landscapes. National Space and the Railways in Interwar Czechoslovakia, New York / Oxford: Berghahn Books 2021, IX + 221 S., ISBN 978-1-78920-776-7, USD 135,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Frithjof Benjamin Schenk
Departement Geschichte, Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Frithjof Benjamin Schenk: Rezension von: Felix Jeschke: Iron Landscapes. National Space and the Railways in Interwar Czechoslovakia, New York / Oxford: Berghahn Books 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/38187.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Felix Jeschke: Iron Landscapes

Textgröße: A A A

Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 verbreitete sich die Kunde vom Ende der Habsburgermonarchie wie ein Lauffeuer über den Eisenbahntelegrafen der Böhmischen Länder. Der nationale Aktivist Isidor Zahradnik, später Minister für das Eisenbahnwesen der ČSR, nutzte das mächtige "tool of empire" (Daniel Headrick) und forderte die Bahnhofsvorsteher auf, alle Hoheitszeichen Österreich-Ungarns von den Gebäuden der mehrheitlich im Staatsbesitz befindlichen Eisenbahnen zu entfernen. Aber die Botschaft drang nicht bis zu den Bahnhöfen in den slowakischsprachigen Gebieten Ober-Ungarns durch. Die dortigen Bahnen standen seit dem Ausgleich von 1867 unter ungarischer Verwaltung und waren nur rudimentär mit dem Schienen- und Telegrafennetz der Böhmischen Länder verbunden. Für die Architekten der unabhängigen ČSR stand schnell fest, dass diese als unnatürlich wahrgenommene Trennung der Verkehrsnetze des "nationalen Raumes" unverzüglich überwunden werden müsse, ja, dass die Eisenbahn eine wichtige Rolle bei der Schaffung und Konsolidierung des neuen Nationalstaats spielen solle.

Dem Wechselverhältnis von Eisenbahnbau (und -nutzung) und nation building (beziehungsweise "Territorialisierung") in der ersten Tschechoslowakischen Republik hat Felix Jeschke eine fulminante historische Studie gewidmet. Inspiriert von Autoren einer kulturhistorisch interessierten Infrastruktur- und Raumgeschichte (unter anderem Wolfgang Schivelbusch, Dirk van Laak, Henri Lefebvre) und Klassikern der konstruktivistischen Nationalismus-Forschung (Ernest Gellner, Benedict Anderson, Pierre Nora, Rogers Brubaker etc.) untersucht der Verfasser, welche Bedeutung die Eisenbahn bei der "Arbeit am nationalen Raum" (Peter Haslinger) in der ČSR der Zwischenkriegszeit zukam. Anders als in der traditionellen Eisenbahngeschichte stehen nicht Lokomotiven, die Bauten von Ingenieuren oder die ökonomische Bedeutung des Verkehrsmittels im Fokus. Jeschke geht es vielmehr darum, am Beispiel der ČSR die Bedeutung der Eisenbahn für die Schaffung moderner Nationalstaaten aufzuzeigen. Untersucht werden politische Debatten über die Schaffung des "nationalen Raums" durch den Ausbau des Schienennetzes, Eröffnungsfeiern neuer Eisenbahnverbindungen, die Wahrnehmung und Repräsentation des Landes in Reiseführern, Landkarten und Reiseberichten, die Sprachpolitik in Zügen und unter den Beschäftigten der Staatsbahn ČSD sowie Bahnhöfe und Züge als Symbole eines modernen Nationalstaats.

Das Ergebnis ist kein dickes und schwer verdauliches Kursbuch, sondern ein handlicher Reisebegleiter mit fünf konzisen und gut lesbaren Essays, die jeweils auch als eigenständige Fallstudien gelesen werden können. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die These von der Ambivalenz der Eisenbahn im Projekt des nation building der ČSR durch das Buch: Mit dem neuen Verkehrsmittel sollte einerseits der "nationale Raum" konsolidiert und homogenisiert werden, andererseits wurde im Eisenbahndiskurs die internationale Anbindung des Landes beschworen und das altbekannte Bild der Böhmischen Länder als "Herz Europas" in moderner Form neu belebt. Während man einerseits neue Bahnhöfe im mährischen Heimatstil errichtete (zum Beispiel in Uherské Hradiště), beschwor man andernorts (zum Beispiel in Hradec Králové) mit modernistischen Säulenbauten aus Beton und Glas die ČSR als demokratisches, in die Zukunft blickendes, weltoffenes Industrieland. Besonderes Augenmerk widmet der Verfasser der Frage, welche Rolle die Eisenbahn bei der Integration der Slowakei und der Karpatho-Ukraine sowie der mehrheitlich deutschsprachigen Regionen der Böhmischen Länder in den "nationalen Raum" der ČSR spielte. Eingehend beleuchtet er dabei Orientalismen im (tschechischen) Diskurs über die vermeintlich rückständigen Gebiete im Osten des Landes, Abwehrreaktionen aus der Slowakei gegen die Entsendung tschechischer Eisenbahner und die Versuche, die industriell weniger entwickelten Regionen des Landes mit Hilfe des modernen Verkehrsmittels (Bau der Central Slovak Main Line, Schnellzug Slovenská strela) enger an das Zentrum anzubinden.

Das Projekt, mit Hilfe der Eisenbahn einen konsolidierten nationalen "tschechoslowakischen Raum" zu schaffen, gelang nur partiell, so Jeschke. Bereits 1918 war die ČSR eines der am besten mit Eisenbahnen erschlossenen Länder Europas. Hinzu kamen in der Zwischenkriegszeit neun weitere Strecken in einer Gesamtlänge von 372 Kilometern. 1937 legte jede:r Bürger:in der ČSR im Durchschnitt 400 Kilometer mit der Eisenbahn zurück. Dank der Slovenská strela konnte man die Distanz zwischen Prag und Bratislava 1936 in weniger als fünf Stunden zurücklegen. Dessen ungeachtet konnte aber das moderne Verkehrsmittel die wachsenden Antagonismen zwischen den verschiedenen Sprachgruppen des Landes nicht "überschienen" (Jaroslav Rudiš). National gesinnte Passagiere beschwerten sich über Schaffner, die sich weigerten, in Zügen der in der ČSR verkehrenden Deutschen Reichsbahn Tschechisch zu sprechen, Bürger in deutschsprachigen Gebieten ärgerten sich über die Tschechisierung von Schildern und Aufschriften im lokalen Eisenbahnsystem, und Slowaken fühlten sich vom tschechischen Paternalismus im Eisenbahndiskurs bevormundet. All dies beweist einmal mehr, wie hochtrabend - und letztlich illusorisch - die Pläne jener fortschrittsbegeisterten und -gläubigen Kräfte (auch in der ČSR) waren, die davon träumten, gesellschaftliche Missstände mithilfe der Eisenbahn zu lösen und das Verkehrsmittel als mächtiges Werkzeug des social engineering einzusetzen. Für das Scheitern der ersten Tschechoslowakischen Republik trägt die Eisenbahn gewiss keine nennenswerte Verantwortung. Retten konnte das eherne Skelett der Eisenbahn das neue Staatswesen jedoch auch nicht.

Fazit: Ein grandioses Buch, das sehr zur Lektüre empfohlen wird und das hoffentlich ein breites Echo findet. Dass sich der Leser eine noch genauere Karte, mehr Illustrationen (zum Beispiel der in Kapitel 4 analysierten Bahnhöfe) und weitere Essays (zum Beispiel über Reiseberichte deutsch- und ungarisch-sprachiger Tschechoslowaken, über den Umgang mit dem habsburgischen baulichen Erbe, über "Herrscherreisen" auf den Bahnen der ČSR etc.) gewünscht hätte, fällt dabei nicht ins Gewicht.

Frithjof Benjamin Schenk