Rezension über:

Heiner Stahl: Geräuschkulissen. Soziale Akustik und Hörwissen in Erfurt, Birmingham und Essen (1880-1960) (= TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 462 S., ISBN 978-3-412-52466-1, EUR 60,00
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Rezension von:
Hansjakob Ziemer
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hansjakob Ziemer: Rezension von: Heiner Stahl: Geräuschkulissen. Soziale Akustik und Hörwissen in Erfurt, Birmingham und Essen (1880-1960), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37778.html


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Heiner Stahl: Geräuschkulissen

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Die Untersuchung von Geräuschen, so stellte der amerikanische Musikwissenschaftler David Novak fest, sei wie eine "Radnabe": Ihre Charakteristiken strahlten in jede Richtung aus, und jede Spure führe wie eine Speiche zu einem eigenen Thema und Endpunkt. [1] Dies gilt insbesondere für eine Untersuchung von Geräuschen in der Vergangenheit, in der die Ephemeralität, Vielgestaltigkeit und Omnipräsenz von alltäglichen Klängen die Geschichtsschreibung vor methodische und forschungspraktische Herausforderungen stellen.

Der Siegener Historiker Heiner Stahl hat sich dieser Herausforderung mit einer vergleichenden Studie über "Geräuschkulissen" in drei urbanen Zentren (Erfurt, Essen, Birmingham) zwischen dem Durchbruch der Industrialisierung am Ende des 19. und der Etablierung der Nachkriegsordnung Mitte des 20. Jahrhunderts angenommen. Auch wenn er sich auf eine kontinuierlich wachsende Literatur der Soundgeschichte in den letzten zehn bis 15 Jahren berufen kann, so legt er eine der ersten übergreifenden Darstellungen über die Geschichte des Umgangs mit Geräuschen, Klang und Lärm außerhalb der Musikkultur in diesem Zeitraum vor. [2]

Stahl befasst sich in seiner Monografie mit Hörweisen von Geräuschen und mit auditiven Praktiken im urbanen Leben in einem weiten Querschnitt. Er gliedert seine Studie in zwei Teile: Im ersten untersucht er das "Hörwissen" über die Funktions- und Interpretationsweisen von Geräuschen bei spezifischen Berufsgruppen wie Juristen, Polizisten, Ärzten, Gesundheitsinspektoren oder Verkehrsplanern sowie bei Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern selbst; im zweiten rekonstruiert er historische Orte wie die Fabrik, die Wohnung, den Verkehr, die Kundgebung oder den Luftraum, in denen sich ein jeweils spezifischer und historisch wandelbarer Umgang mit Klängen zeigte.

Stahl analysiert eine Vielzahl an Themen: Die Durchsetzung von juristischen Normen wie der "Ortsüblichkeit" auf Grundlage der Reichsgewerbeordnung von 1871 und die Improvisation der städtischen Autoritäten im Umgang mit Beschwerden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Verwissenschaftlichung von Körperwahrnehmungen und ihre Rolle in der Fabrikproduktion und im Wohnungsbau mit dem Ziel des Schutzes von Stadtbewohnern in den 1920er Jahren, den Einfluss von Lautsprecheranlagen oder die Politisierung der akustischen Ordnungen durch Gewaltexzesse in den 1930er Jahren sind nur eine kleine Auswahl an Fällen. Stahl untersucht sie über einen langen Zeitraum hinweg jenseits der Zäsuren politischer Geschichtsschreibung und arbeitet Kontinuitäten hervor, ohne die Singularität historischer Situationen aus dem Blick zu verlieren.

Stahls Studie überzeugt dort, wo er seine historischen Beispiele auf der Grundlage reichhaltiger Archivstudien darstellt, und anhand scheinbar trivialer Begebenheiten zeigt, wie vielfältig die Spuren für eine Soundgeschichte des Geräuschs sind. Sie reichen von den Berichten des Erfurter Stadtarztes, der 1932 ein Radiogeschäft begutachtete, das die Straße beschallte, über Beschwerden anlässlich der Lärmbelästigung durch eine Hunderennbahn in Birmingham bis hin zu den Bauplänen für eine Rohrproduktionsstätte bei Essen um 1902, die den Hörempfindlichkeiten der Anwohner Rechnung zu tragen hatte. Stahl skizziert keine rein lineare Geschichte eines einzelnen Gegenstands; vielmehr entwirft er ein beziehungsreiches Mosaik des Umgangs mit Klangphänomenen. Dabei gelingt es ihm, übergreifende Entwicklungen zu identifizieren und etwa zu zeigen, wie sehr die liberale Wirtschaftsordnung des 19. Jahrhunderts den Umgang mit Klängen prägte.

Die Geschichte durchzieht eine Ökonomisierung des Rechtsverständnisses bezüglich akustischer Raumordnungen und den damit verbundenen Folgen für die Stadtbewohnerinnen und -bewohner, für die der Umgang mit Lärm zunehmend zu einem gesundheitlichen Risiko wurde. Kontinuitäten offenbarten sich auch in akustischen Praktiken der Beschallung von Plätzen und Straßen zwischen dem Ende der Weimarer Republik über die nationalsozialistische Diktatur bis hin zu sozialistischer Propaganda in der DDR. Stahl eröffnet durch seine Verweise auf den Fall in Birmingham auch alternative Wege im Umgang mit den Folgen der modernen Geräuschkulissen, etwa im Gesundheitssystem. Eine solche allgemeine Soundgeschichte bedarf eines interdisziplinären und umfassenden Ansatzes - die Einführung der Autohupe führt vor, wie die Zeitgenossen technische, verkehrsplanerische, juristische und sogar musikwissenschaftliche Expertisen zusammenführen mussten, um Erfolg zu haben.

Die Studie führt die Omnipräsenz von Klängen im urbanen Raum vor Augen. Für die Analyse nutzt Stahl einen weitgefächerten Katalog an theoretischen Begriffen und Konzepten, von Helmholtz über Rosenstock-Huessy bis zu Plessner, Sloterdijk und einigen anderen. Aber es fällt auf, dass eine stärkere Fokussierung geholfen hätte, dem Reichtum der Quellen mehr Stringenz in der Darstellung zu verleihen. So definiert er zwar den Begriff des "Hörwissens", aber nutzt sein Potential nicht aus, etwa durch eine Verknüpfung mit der bestehenden Literatur zur Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte. Dies wäre wünschenswert gewesen, um bestimmten Einschätzungen auf den Grund zu gehen, beispielsweise inwieweit es wirklich ein "professionelles Hörwissen" in den städtischen Behörden gab. Und was hilft uns der Begriff "Hörwissen", um das auditive Erleben in der Stadt zu verstehen? Was galt als Hörwissen, was nicht und wie kam dieses Wissen zustande? [3]

Dieser Hinweis soll aber die Verdienste dieses Bandes nicht schmälern. Das Buch zeigt, wie sehr Geräusch, Klang und Lärm zutiefst Teil der modernen Kommunikation, der urbanen Erfahrung und der kulturellen Ordnung waren und nicht auf ein Gegenüber von Kultur reduziert werden können. Der vergleichende Ansatz des Autors stellt dar, wie sich auditive Praktiken über politische und nationale Grenzen hinweg ausdehnten und gleichzeitig neue soziale Grenzen ziehen halfen. Gerade dies gibt Anlass, darüber nachzudenken, warum dies so war und ob ein transnationaler Vergleich, auch jenseits westeuropäischer Räume, andere Resultate über die auditiven Praktiken im urbanen Raum erbringen könnte. Die historische Untersuchung der "hermeneutischen Macht von Klängen" (Yaron Jean) birgt somit weiterhin Forschungspotential, um das Zusammenleben in der modernen Stadt im Wandel besser zu verstehen. [4]

Anmerkungen:

[1] David Novak: Noise, in: Ders./Matt Sakakeeny (Hgg.): Keywords in Sound, Durham/London 2015, 125-138, hier 133.

[2] Parallel erschienen: Yaron Jean: Hearing Experience in Germany, 1914-1945. Noises of Modernity, Cham 2022.

[3] Zu politischem Hörwissen vgl. beispielsweise die Beiträge Jan-Friedrich Missfelder: Wissen, was zu hören ist. Akustische Politiken und Protokolle des Hörens in Zürich um 1700, 289-303; Daniel Morat: Parlamentarisches Sprechen und politisches Hör-Wissen im deutschen Kaiserreich, 305-328, in: Netzwerk "Hör-Wissen im Wandel" (Hg) : Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne, Berlin/Boston 2017; sowie zur Wissenschaftsgeschichte etwa Viktoria Tkaczyk/Mara Mills/Alexandra Hui (Hgg.): Testing Hearing. The Making of Modern Aurality, New York 2020.

[4] Vgl. Jean: Hearing Experience in Germany, 3.

Hansjakob Ziemer