Rezension über:

Benjamin Hoffmann: Recht und Religion im Verfassungsrecht der Frühen Neuzeit. Die elf Mühlhäuser Artikel (= Europäische Rechts- und Regionalgeschichte; Bd. 24), Baden-Baden: NOMOS 2022, XXIV + 150 S., 4 Farbabb., ISBN 978-3-8487-8582-7, EUR 72,00
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Rezension von:
David von Mayenburg
Institut für Rechtsgeschichte, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
David von Mayenburg: Rezension von: Benjamin Hoffmann: Recht und Religion im Verfassungsrecht der Frühen Neuzeit. Die elf Mühlhäuser Artikel, Baden-Baden: NOMOS 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/36519.html


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Benjamin Hoffmann: Recht und Religion im Verfassungsrecht der Frühen Neuzeit

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Die Berner Dissertation des Juristen Benjamin Hoffmann möchte einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, in welcher Weise in der Frühen Neuzeit Religion als Legitimation von Verfassungsrecht diente. Dabei beschränkt sich Hoffmann auf die Exegese eines Schlüsseltexts, nämlich der elf "Mühlhäuser Artikel" aus dem Herbst 1524. Das Dokument entstand, als die Prediger Thomas Müntzer und Heinrich Pfeiffer gemeinsam mit den unterbürgerlichen Einwohnern einen Sturz des Mühlhäuser Rats anstrebten. Der Text entwirft, unter Verweis auf einzeln aufgeführte und interpretierte Bibelstellen, eine Reform der Mühlhäuser Ratsverfassung. Der neu und dauerhaft einzusetzende Rat (Artt. 1, 3, 10, 11) wird dabei auf die Beachtung der Bibel als Quelle der Gerechtigkeit verpflichtet (Artt. 2, 9). Niemand solle zur Mitarbeit gezwungen werden (Art. 5), außerdem werden inhaltliche (Todesstrafe, Art. 4) und äußere Aspekte der Amtsausübung (Alimentierung, Art. 6; Siegelführung, Art. 7; Dokumentation und Publikation von Übertretungen, Art. 8) geregelt.

Die elf Artikel stellen eine sowohl für die Bauernkriegshistoriographie als auch für die Müntzerforschung zentrale Quelle dar. Hoffmann blendet allerdings diese interdisziplinären Aspekte des Dokuments überwiegend aus und untersucht seine Quelle ganz bewusst allein aus "juristischer Perspektive" (16).

Die Studie ist mit 150 Seiten äußerst knapp gehalten. So bleibt wenig Raum für eine ausführlichere äußere Quellenkritik. Grundlage der Analyse ist die kritische Edition in der Müntzer-Gesamtausgabe, geboten wird außerdem ein Faksimile der im Landesarchiv Thüringen befindlichen Handschrift. [1] Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand findet nur sehr rudimentär statt. Ohne Einordnung bleiben etwa die Beiträge der DDR-Geschichtswissenschaft, die in dem ebenfalls stark ergänzungsbedürftigen Literaturverzeichnis ohnehin nur sehr unvollständig berücksichtigt werden.

Hoffmann geht von der Feststellung aus, dass Formen religiöser Legitimation von Recht bereits im mittelalterlichen Recht üblich gewesen seien (9f.). Da somit die theologische Legitimation jeglichen Rechts in der Vormoderne "selbstverständlich" war, wie Hoffmann selbst eingesteht (9), wäre die Weiterverfolgung der eingangs gestellten Frage, ob die Mühlhauser Artikel religiös legitimiert gewesen seien, auch wenig sinnvoll. Näherliegend ist zu fragen, in welcher Weise theologische Versatzstücke mit juristischen verschmolzen wurden, um die Zeitgenossen zu überzeugen. Hier setzt Hoffmann dann auch an. Beginnend mit der Präambel geht er die elf Artikel und das Schlusswort der Reihe nach durch. Jedes Kapitel folgt dabei demselben Aufbauschema: Ausgehend von einer Paraphrase des Wortlauts der einzelnen Artikel werden die in der Quelle genannten Bibelverweise analysiert und schließlich der Hintergrund der jeweiligen Forderung erläutert. Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Schlussbetrachtung (135-142).

Die Lektüre macht deutlich, wie sich die Gruppe um Thomas Müntzer 1524 die Grundsätze eines Stadtregiments vorstellte und wie sie dabei zur Legitimation auf biblische Quellen zurückgriff. Leider schöpft Hoffmann aber das Potential der spannenden Quelle in seiner eher als rechtshistorische Exegese denn als geschichtswissenschaftliche Studie angelegten Arbeit nicht voll aus. Dazu hätte er nicht nur die historischen und theologischen, sondern gerade auch die juristischen Aspekte noch eingehender und tiefenschärfer analysieren müssen.

Diese Unschärfen lassen sich am Beispiel der Interpretation von Artikel 6 belegen. Der Text lautet: "Das man sie versorge, das sy notthorfft haben". Hoffmann liest diesen Artikel als Regelung, der zufolge die Ratsmitglieder zwecks Eindämmung der Korruption "keinen finanziellen Lohn erhalten" (85) sollten. Diese Interpretation als Forderung nach Beschränkung der Ratsmitglieder auf ihre Privateinkünfte (88) beruht allerdings auf einem Missverständnis. Intendiert ist vielmehr eine Versorgung aus öffentlichen Mitteln, die sich allerdings an der individuellen Bedürftigkeit der Ratsmitglieder orientieren sollte. Dies wird durch die zitierten Bibelstellen untermauert, die nichts anderes fordern als die Beachtung der Gebote der Mäßigung und der Äquivalenz: Ex 18 wendet sich gegen Unmäßigkeit und Charakterschwäche. In Ag 20 geht es darum, bei der Amtsausübung nicht Silber, Gold oder Kleidung zu erstreben. Wenn jeder als "seines Lohnes wert" (Matth 10) betrachtet wird, sich aber mit seinem Sold begnügen solle (Luk 3), so ist daraus die Forderung zu entnehmen, jedem nur so viel zuzuweisen, wie es seiner Leistung entspreche. Einen ähnlichen Inhalt muss man auch dem Begriff "Notdurft" geben. Dabei handelt es sich nicht, wie Hoffmann behauptet, um ein Äquivalent zum "gemeinen Nutzen" und die Festlegung seines Inhalts unterlag auch nicht "der Deutungshoheit des jeweiligen Herrschaftsträgers" (89). Vielmehr war die (Haus-)Notdurft ein auch rechtspraktisch sicher verankertes Grundprinzip der vormodernen ständischen Wirtschaftslehre [2], wobei gerade nicht auf den "Gemeinnutzen" (89), sondern auf den Bedarf einzelner Wirtschaftseinheiten (etwa des Hauses, eines Standes, einer Person) abgestellt wurde. Die Aussage von Art. 6 geht also dahin, dass jedes Ratsmitglied nach seinen Bedürfnissen versorgt werden sollte, aber auch nicht mehr fordern durfte, als zu einem standesgemäßen Leben erforderlich war.

Viele Fragen lässt Hoffmann unbeantwortet. So wird der innovative Charakter des Dokuments nur punktuell angesprochen, und es wird nicht systematisch erörtert, welche Elemente der angestrebten Verfassungserneuerung bereits zuvor, etwa im Mühlhäuser Rezess von 1523, angelegt waren. Für eine Einordnung wichtig wäre vor allem auch die Klärung der Frage gewesen, welche Wirkung das Dokument im weiteren Verlauf der Mühlhäuser Geschichte hatte. [3] Der Typus des "Artikelbriefs" und die Form der "Artikulierung", die sich auch im gemeinrechtlichen Zivilverfahren ("Artikelprozess") niederschlägt, werden nicht näher untersucht. Die erstaunliche formale und inhaltliche Nähe zu den wenig später abgefassten 12 Artikeln der oberschwäbischen Bauern und mögliche direkte Einflüsse der Mühlhäuser Artikel beschäftigen die Forschung seit dem 19. Jahrhundert. Auch hierzu liest man bei Hoffmann nichts. Die mediale Seite der Quelle wird nur angerissen und nicht zu ihrer Bewertung herangezogen: Anders als die 12 oberschwäbischen Artikel sind die Artikel von Mühlhausen nicht im Druck erschienen und nur handschriftlich in den umliegenden Dörfern verbreitet worden.


Anmerkungen:

[1] Siegfried Bräuer / Manfred Kobuch (Hgg.): Thomas Müntzer. Briefwechsel (Thomas-Müntzer-Ausgabe, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2), Leipzig 2010, n.105, 371-383. Verwendet wird das Manuskript Landesarchiv Thüringen - Hauptstaatsarchiv Weimar EGA Rg. N 837, Bl. 8r-9v.

[2] Näher und mit weiteren Hinweisen: David von Mayenburg: Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die Zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bauernkriegs (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 311), Frankfurt/M. 2018, 303-306.

[3] Zu Mühlhausen im Bauernkrieg erschien nach Abschluss der hier besprochenen Schrift die eingehende Untersuchung von Thomas M. Müller: Mörder ohne Opfer. Die Reichsstadt Mühlhausen und der Bauernkrieg in Thüringen (Schriften der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, Bd. 40), Petersberg 2021, hier: S. 174-235 zu den Ereignissen 1524.

[Textanfang]

Prof. Dr. David von Mayenburg, M.A.

Goethe-Universität Frankfur

David von Mayenburg