Rezension über:

Katja Müller-Helle: Bildzensur. Infrastrukuren der Löschung (= Digitale Bildkulturen), Berlin: Wagenbach 2022, 74 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-8031-3714-2, EUR 10,00
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Rezension von:
Tom Holert
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Katharina Jörder
Empfohlene Zitierweise:
Tom Holert: Rezension von: Katja Müller-Helle: Bildzensur. Infrastrukuren der Löschung, Berlin: Wagenbach 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 5 [15.05.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/05/37641.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Katja Müller-Helle: Bildzensur

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Vor Kurzem, im Auto, beim Hören von Deutschlandfunk Kultur. Eine halbstündige Folge der Sendung "Breitband" war den neuesten Entwicklungen in einem Gerichtsverfahren gewidmet, das sich um die Auseinandersetzung zwischen einem globalen Medienkonzern und einem DNS-Resolver-Dienst dreht. Ein DNS Resolver wandelt, sehr einfach gesagt, die Namen von Websites in IP-Adressen um. Er ermöglicht dadurch auch den Verkehr zwischen unterschiedlichen Websites, Datenbanken oder privaten User-Accounts, was die Übertragung von urheberrechtlich geschützten Daten beinhalten kann. Das Landgericht Leipzig hat nun im März 2023 geurteilt, bei dem DNS Resolver-Anbieter Quad9, einer in der Schweiz ansässigen Stiftung, handele es sich gemäß Urhebergesetz um einen "Täter", der ein von Sony Music lizensiertes Musikalbum verbreitet, das auf einer weiteren Seite im Netz zum (illegalen) Download bereitliegt. Sollte dieses Urteil Bestand haben, wäre dies ein Präzedenzfall, der es Sony Music (und anderen ähnlich großen Rechteinhabern) erlauben würde, jeden beliebigen DNS Resolver zu verklagen, wenn nur der Hauch eines Verdachts besteht, dass mit Hilfe ihres Übersetzungsmechanismus auch urheberrechtlich geschützte Inhalte im Netz zirkulieren. Welche Brisanz in einer solchen Entwicklung steckt, machte der abschließende Kommentar der "Breitband"-Moderatorin Vera Linß deutlich. Ihrem Kollegen im Studio, dem Publikum und sich selbst stellte sie die durchaus besorgte Frage, ob damit nicht letztlich "Machtfragen" darüber entschieden, wie Recht gesprochen werde.

Dass ich überhaupt an der Sendung hängengeblieben bin, hat viel zu tun mit meiner Lektüre des Essays über "Infrastrukturen der Löschung", den die Berliner Kunsthistorikerin und Medienwissenschaftlerin Katja Müller-Helle in der Reihe "Digitale Bildkulturen" veröffentlicht hat. Wie die Radiomoderatorin stellt sie die Frage nach Macht und potenzieller Gegenmacht in einer Internet-basierten Realität, in der Bilder nicht unabhängig von ihren technischen Bedingungen, gesellschaftlichen Verwendungsweisen und juristischen Kontexten existieren (beziehungsweise nicht existieren, buchstäblich aus dem Verkehr gezogen werden). Der schmale Band handelt dem Titel zufolge von Bildzensur, aber im Grunde scheint dieser Fokus, neben einem originären Frageinteresse, wohl vor allem der disziplinären Herkunft der Autorin geschuldet. Zwar spricht Müller-Helle von einer "visuellen Kultur der Sperrung" (12) und beschäftigt sich gleich zu Beginn mit dem Beispiel der ikonischen "Block-Page" des von Twitter nach dem Sturm des Capitol am 6. Januar 2021 abgeschalteten Accounts von Donald Trump - einem "Metabild des Regulationsgeschehens in digitalen Bildkulturen" (8). Aber bald stellt sich der Eindruck ein, dass die Verbindungen zwischen "Bild" und "Zensur" immer wieder stark gelockert werden müssen, um dem Thema und den in ihm eingelagerten Fragestellungen gerecht zu werden. Zu einem Problem wird ein solches Auseinanderdriften von bild- und rechtswissenschaftlichen Aspekten jedoch nur, wenn man an einem Begriff von Bild festzuhalten versucht, der allzu eng mit den visuellen (und epistemischen) Objekten der Präsentation und Repräsentation assoziiert ist. Müller-Helle interessiert aber weniger eine etwaige objektorientierte Ontologie des Bildes als dessen Informationscharakter und jene "sozio-technische [...] Steuerung" (9), die eine volatile Datenmenge überhaupt als "Bild" in Online-Medien sichtbar werden lässt oder eben nicht.

Sozio-technisch ist diese Regulierung des visuellen Geschehens, weil sie auf gesellschaftlichen Verabredungen beruht und in technischen Umgebungen erfolgt. Was "Zensur" genannt (und als solche sowohl praktiziert als auch bekämpft) wird, ist ein historisch und kulturell spezifisches fait social, keine universell gültige, sondern von Formwandel betroffene Kategorie, auch wenn die Rechtsprechung und gewisse sozial produzierte Überzeugungen immer wieder letzteres suggerieren. Der eingangs geschilderte Fall des juristischen Einschreitens gegen den Betrieb eines Internetauskunftsystems, das zu einem overblocking, der breiten Verhinderung von Datenverkehr führen kann (und zwar auch dort, wo keine Urheberrechtsverletzung vorliegt, allein auf Geheiß eines globalen Medienunternehmens), bezeugt, wie Zensur in durch und durch verrechtlichter Gestalt auftritt. Auch wenn eine derartige Blockade eines infrastrukturellen Operators durch die Rechtsprechung gedeckt ist, können deren Effekte als Zensur erfahren werden.

Eben solche indirekten Zensureffekte sind es, die den aktuellen Umgang mit visuellen Daten, die sich zu "Bildern" konfigurieren, von historischen Formen der Zensur unterscheiden. Ihr komparatistisches Vorgehen erlaubt es Müller-Helle, die "Rhetorik der Neutralität" (17), derer sich Soziale Netzwerke und die Unternehmen, die deren Plattformen betreiben, befleißigen, als Übernahme "jahrhundertealter" Rituale und Praktiken von Zensur zu charakterisieren. Im historischen Vergleich kann sie zudem zeigen, wodurch sich die "kleinteiligen Prozesse distribuierter Machtverteilung von Konzernen", in denen "menschliche und nicht-menschliche Akteure wie Content Moderator:innen und Bilderkennungssoftware" neue "Sperrpraktiken" anwenden (21), von älteren Formen der Zensur unterscheiden.

Die spezifische Raffinesse beziehungsweise Perfidie von Zensur im Zeitalter der Sozialen Medien beruht nicht allein auf den komplexen juristischen Blendwerken, hinter denen sich die Konzerne eingerichtet haben (und die sie bei Notwendigkeit zur Waffe machen), sondern überdies auf einer "Kollaboration von Zensierenden und Zensierten" (44). Denn die Regulation von Bildern und Texten geschieht durch einen "vielteiligen Moderationsapparat" (ebd.), der Kontrolle von einem vermeintlichen Oben wie von einem vermeintlichen Unten aus ausübt. Dabei kooperieren menschliche und künstliche Intelligenz, um anhand mehr oder (zumeist) weniger transparenter Kataloge dessen, was zulässig und unzulässig ist, zu entscheiden, welche Bilder und Texte sichtbar und lesbar sind und welche nicht.

Die Betreiber dieser "Infrastrukturen der Löschung" geben vor, sie handelten im Interesse einer ominösen Gemeinschaft und entlang entsprechender community guidelines, die Nutzer:innen vor traumatisierenden, anstößigen, ein gewisses sittliches oder religiöses Empfinden irritierenden Inhalten schützen sollen. Im gleichen Zug eines vorgeblichen Schutzes können aber Zwangslagen entstehen, die, wie im Falle LGBTQI+-bezogener Inhalte, auf "ausgeklügelte Praktiken der Selbstzensur" (11) hinauslaufen. Detailliert und schlüssig argumentiert Müller-Helle immer wieder in solchen dialektischen Figuren. Gleichermaßen bildwissenschaftlich wie medienwissenschaftlich, rechtstheoretisch wie demokratietheoretisch versiert, lädt sie dazu ein, die Benjaminsche Frage nach dem "dialektischen Bild" noch einmal neu zu stellen. Vor dem Hintergrund der Kritik des politischen fall-out des Informationskapitalismus, wie sie Joseph Vogl übt, und der resultierenden operationalistischen Phänomenologie dessen, was die Netzwerkwissenschaftler:innen Adrian Mackenzie und Anna Munster "platform seeing" nennen, präsentiert Bildzensur eine Typologie des Neuen der aktuellen Lage. Demnach sei es die Kombination aus exponentiell anwachsendem globalen Datenvolumen und Echtzeitdynamik, die sich mit der Berechenbarkeit der "temporäre[n] visuelle[n] Materialisierungen von Daten, die den Verteilungs- und Steuerungslogiken des Internets unterliegen", und der Implementierung solcher Bilddaten durch ein "algorithmisches Management" (28-29) verbinden, die das gegenwärtige Zensurgeschehen kennzeichnet.

So beklemmend und in lauter black boxes eingeschlossen die Mischung aus juristisch, technisch und moralisch (über)codierten Praktiken der Sperrung und Löschung erscheinen mag, erweist sich die parastaatliche Steuerungsmacht der Plattformen gelegentlich als anfällig für parasitäre Interventionen. Katja Müller-Helle setzt an den Schluss ihres dichten Textes ein kleines Panorama von "Gegen-Sichtbarkeiten", die die "visuelle[n] Marker" (58) der Online-Zensur mobilisieren, um auf ebendiese zu reagieren - mit "Verpixelung, Unschärfen, schwarze[n] Balken, Rasterungen, weiße[n] Auslassungen" (57), dazu mit "Umarbeitungen, Memes, Mash-ups und Persiflagen" (64). Aber etwaige Selbstermächtigungsphantasien einer rebellischen Netzkultur sehen sich sogleich mit der demokratietheoretischen Frage konfrontiert, "welche Akteure unter welchen Bedingungen überhaupt am großen Experiment der Neugestaltung digitaler Räume partizipieren können" (65). Wie im juristischen Angriff von Sony Music auf Quad9 sind die Kräfte zumeist ungleich verteilt. Asymmetrie ist die Regel der Zensur, die immer schon die Machtfrage stellt und zugleich beantwortet. Heute herrscht zudem die doppelte Illusion vor, Zensur könne es einerseits gut meinen und andererseits unterwandert werden. Von "Bildern" zu sprechen, fällt unter diesen Bedingungen immer schwerer, von "Zensur" dagegen immer leichter. Auf diese Problemlage unaufgeregt hinzulenken, ohne den Ernst der Verhältnisse zu verhehlen, ist eine von vielen Leistungen dieses Essays.

Tom Holert