Rezension über:

Charlotte Husemann: Geschichte beschreiben, Geschichte erklären. Eine Untersuchung fachsprachlicher Konzepte und fachlicher Sprachhandlungsfähigkeit von Gesamtschüler*innen der Sekundarstufe I, Göttingen: V&R unipress 2022, 363 S., 21 Ill., ISBN 978-3-8471-1451-2, EUR 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Tobias Flink
Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Flink: Rezension von: Charlotte Husemann: Geschichte beschreiben, Geschichte erklären. Eine Untersuchung fachsprachlicher Konzepte und fachlicher Sprachhandlungsfähigkeit von Gesamtschüler*innen der Sekundarstufe I, Göttingen: V&R unipress 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/36963.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Charlotte Husemann: Geschichte beschreiben, Geschichte erklären

Textgröße: A A A

In ihrer explorativen Studie untersucht Charlotte Husemann die schülerseitigen Konzepte und sprachlichen Performanzen zu historischem Beschreiben und Erklären. Die Dissertation, die in einem interdisziplinären Projekt entstanden ist, ordnet sich ein in eine wachsende Zahl an Studien zu Sprachhandlungen von Schüler*innen und greift ein nach wie vor relevantes Desiderat auf: die fundierte Operationalisierung der Operatoren. Denn nur so können sie ihre primäre Zielsetzung, Aufgaben transparent zu gestalten, auch erfüllen. Zudem zeigen empirische Studien, auch die vorliegende, dass die Produktion fachspezifischer Sprachhandlungen für viele Lernende herausfordernd ist. Einen plausiblen Grund hierfür sieht Husemann im Sprachhandlungswissen, das teilweise durch alltägliche Vorstellungen geprägt ist. Dieses Wissen und seinen Einfluss auf die Sprachhandlungsfähigkeit zu erheben und durch eine Intervention im Sinne eines Conceptual Change fachspezifisch zu fördern, ist primäres Ziel der Arbeit.

Neben Einleitung (1.) und Fazit (7.) gliedert sich die Arbeit in fünf Kapitel: Zunächst (2.) synthetisiert Husemann umfang- und kenntnisreich auf Basis linguistischer, schreib- und geschichtsdidaktischer Theorien die didaktische Textsorte Sachurteil, die sich vor allem aus den Sprechakten beschreiben und erklären zusammensetze (81). Sie begründet so die theoretische Bedeutung der Sprachhandlungen und plädiert für "domänenspezifisches Problemlösewissen, das zum fachsprachlichen Handeln befähigt" (65). Dessen Bestandteile operationalisiert sie für beide Operatoren. Insbesondere die Überlegungen zum Beschreiben sind sehr überzeugend. Mit Blick auf das Erklären wäre jedoch die Berücksichtigung einiger grundlegender Werke, zum Beispiel von Arthur Danto und Chris Lorenz, wünschenswert gewesen. Deren Erkenntnisse würden auch die vor allem linguistisch einleuchtende Operationalisierung weiter aufwerten; so würde man beispielsweise in historischen Erklärungen ein multikausales Explanans erwarten [1], hier wird dagegen nur eine Ursache ("Reproduktion der Ursache", 246) eingefordert.

Etwas überraschend ist zudem die Richtung der zentralen Erkläre-Aufgabe: "Warum können über viele vergangene Ereignisse nur Vermutungen angestellt werden? Erkläre ausführlich." (209/Anhang, 91). Wird hier nicht eher die (Er-)Klärung epistemologischer Prinzipien, wie Retrospektivität und Partialität, gefordert als die durch den Operator eigentlich intendierte Erklärung eines historischen Explanandums, auf die auch die angeführten Erklärmodelle (85-94) abzielen? Selbstverständlich sind diese Prinzipien für Erklärungen hoch relevant, im Wesentlichen geht es aber, folgt man Arthur Danto [2], um kausal-temporale Veränderungen im Horizont der Vergangenheit.

Kapitel 3 stellt detailliert Fragestellungen und Hypothesen vor, bevor die Testinstrumente und die Stichprobe präsentiert werden (4.). In einem Prä-Post-Design wurden die Ergebnisse von Gesamtschüler*innen (n = 364) untersucht; die Experimentalgruppen durchliefen eine zehnstündige Intervention nach dem Modell des textsortenbasierten Lehr-Lern-Zyklus. Die Konzepte wurden qualitativ (5.) in Interviews mit für das Sample repräsentativen Schüler*innen (n = 23), die Sprachhandlungsfähigkeit wurde quantitativ (6.) durch die Analyse von Schreibprodukten ausgewertet. Beide Kapitel stellen akribisch die Befunde für die jeweilige Sprachhandlung vor, Unterschiede und Zusammenhänge werden herausgearbeitet. Die Instrumente und die Interviewtranskripte finden sich in einem digitalen Anhang. Die Arbeit zeichnet sich also durch eine hohe methodische Transparenz aus.

Für den Innovationsgehalt der Studie ist die bislang wenig berücksichtigte Zielgruppe hervorzuheben: Gesamtschüler*innen der siebten und achten Klasse aus NRW, die überwiegend eine türkische Migrationsgeschichte aufweisen (137). In einem umfangreichen Setting erhebt die Autorin potenzielle Prädiktoren für Konzepte und Sprachhandlungsfähigkeit. Es handelt sich um eine eher schwache Lerngruppe, bei der die Intervention nur teilweise erfolgreich ist: Die Schüler*innen erreichen durchschnittlich ca. 40% (8,67 von 22 bzw. 8,48 von 20 Punkten) in den Schreibaufgaben des Post-Tests (318f.). Mit den Ergebnissen und Ausfalleffekten - 106 von 364 Schüler*innen bearbeiten zu beiden Zeitpunkten die Beschreibe- und die Erkläre-Aufgabe (138) - geht Husemann wertschätzend (239) um und reflektiert die jeweils anfallenden Stichproben. Die Autorin kategorisiert die Proband*innen nach fachlich und sprachlich über-/unter- und durchschnittlichen Fähigkeiten und zeigt so nachvollziehbar, wie diese Merkmale im Sample Konzepte, Sprachhandlungsfähigkeit und den intendierten Conceptual Change beeinflussen können.

Hier können nur einzelne der vielen aufschlussreichen Ergebnisse vorgestellt werden. Der Großteil der Antworten lässt auf alltägliche Konzepte schließen; die Proband*innen haben Schwierigkeiten, erklären und beschreiben voneinander abzugrenzen, keine*r kann im Interview "[e]in konkretes Beispiel für einen Operator" nennen (147). Zurecht sieht Husemann hierin ein "erhebliches Problem" (202) für den Geschichts-/Gesellschaftslehreunterricht, da die Operatoren so nicht ihre Funktionen erfüllen können.

Allerdings lassen die Befunde auch hoffen: Viele der Lernenden sind im Interview mit Hilfe in der Lage, die Verben oder deren Merkmale zutreffend zu charakterisieren. Sprachhandlungswissen/ein Konzept ist demnach vorhanden, für eine zustimmungsfähige Definition ist es aber (noch) nicht ausreichend eingeübt worden.

Die quantitative Auswertung überzeugt vor allem durch die akribische statistische Untersuchung von Einflussfaktoren (292-309) auf die Schreibleistung der Proband*innen, die in Regressionsmodelle für die beiden Sprachhandlungen münden. Ihre Befunde verdichtet Husemann durch eine explorative Faktorenanalyse in zwei holistischen Messmodellen und kann so mögliche Zusammenhänge zwischen einzelnen Prädiktoren und der Sprachhandlungsfähigkeit darlegen. Für den Erfolg der Intervention zeigt sie die Bedeutsamkeit der sprachlichen und fachlichen Fähigkeiten der Lernenden auf: Während keine globalen signifikanten Interventionseffekte festgestellt werden können, zeigen kleinschrittigere Analysen unter anderem, dass Lernende mit unterdurchschnittlicher fachlicher Sprachhandlungsfähigkeit von der Intervention für das Beschreiben und das Erklären profitierten (321-327).

Husemanns Dissertation bereichert die geschichtsdidaktischen Diskurse um Operatoren und ihre Profilierung, die Relevanz von Wissen über epistemologische Prinzipien des Faches sowie das Verhältnis von Sprache und Geschichte und seine Auswirkungen auf die Textproduktion. An einigen Stellen ist der Arbeit zwar ein gründlicheres Lektorat zu wünschen, aber dies schmälert nicht die gewinnbringende Lektüre: Die ausführlichen und schlüssigen linguistischen sowie sprachdidaktischen Konzeptionen liefern anregende Ideen für die weitere Diskussion um Operatoren und Sprachhandlungswissen, insbesondere mit Blick auf Schüler*innen, die sonst weniger von der empirischen Forschung berücksichtigt werden. Dies gilt auch für die Pragmatik des (sprachsensiblen) Geschichtsunterrichts, für die sich aus den Befunden Impulse für die Diagnose und Förderung von Konzepten zu und Performanzen von Sprachhandlungen ableiten lassen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. Vierte, erweiterte Auflage, München 1978 (= Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 78), 72.

[2] Vgl. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1974.

Tobias Flink