Rezension über:

Claus Spenninger: Stoff für Konflikt. Fortschrittsdenken und Religionskritik im naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, 1847-1881 (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 20), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 424 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36764-3, EUR 75,00
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Rezension von:
Horst Junginger
Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Horst Junginger: Rezension von: Claus Spenninger: Stoff für Konflikt. Fortschrittsdenken und Religionskritik im naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, 1847-1881, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36354.html


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Claus Spenninger: Stoff für Konflikt

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Die Studie von Claus Spenninger über den Zusammenhang von "Fortschrittsdenken und Religionskritik im naturwissenschaftlichen Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts" entstand im Kontext des Internationalen Graduiertenkollegs "Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts" und wurde 2020 am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München als Promotionsschrift eingereicht. Sie liegt auf einer ähnlichen Linie wie die ebenfalls von der Münchner Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen betreuten Untersuchung von Christopher Leber "Arbeit am Welträtsel. Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900". Beide Dissertationen erschienen als Band 17 und 20 in der Reihe "Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit".

Der griffige Obertitel "Stoff für Konflikt" spricht das Thema der Untersuchung einerseits als materielles Substrat an, aus dem die dingliche Welt besteht, und andererseits als Gegenstand des Materialismusstreits, bei dem die Religion im 19. Jahrhundert zur Negativfolie wurde, vor deren dunklem Hintergrund sich das helle Licht des wissenschaftlichen Fortschritts abheben sollte. Im Gegensatz zur indirekten Religionskritik der frühen Naturwissenschaft, deren Vertreter es sich im 17. Jahrhundert nicht erlauben konnten, offen gegen die Kirche zu argumentieren, griffen die drei Hauptprotagonisten des Materialismusstreits die christliche Religion frontal an. Der Gießener Professor für Zoologie Carl Vogt, der niederländische Arzt und Physiologe Jacob Moelschott und Ludwig Büchner, habilitierter Gerichtsmediziner, philosophischer Schriftsteller und Bruder des bedeutenden Vormärzschriftstellers Georg Büchner, brachten die Wissenschaft wie ein Geschütz gegen die Religion in Stellung. Die Ausführungen von Spenninger lassen das neue bürgerliche Selbstbewusstsein erkennen, mit dem die Vertreter des Wissens den Vertretern des Glaubens entgegentraten. Weil beide Kirchen zu den wichtigsten Befürwortern der Monarchie gehörten, repräsentierte das Christentum in doppelter Hinsicht den Rückschritt, einerseits auf dem Gebiet der Wissenschaft und andererseits auf dem der Politik.

Spenninger orientiert sich in seiner Analyse an den unterschiedlichen Ausprägungen der Fortschrittsidee, die er bei den Vertretern des naturwissenschaftlichen Materialismus in ihrer unterschiedlichen disziplinären Ausrichtung fundiert herausarbeitet. Bei der Zurückweisung kirchlicher Einmischungen in Angelegenheiten der Wissenschaft ging es um Fragen der Ideologie und Diskurshoheit, aber auch um die Verteidigung bzw. Eroberung gesellschaftlicher Machtpositionen. Auf beiden Seiten wurde mit harten Bandagen gekämpft und mit Kritik nicht gespart. Auf das Argument, dass in der Wissenschaft kein Platz für die Religion sei, reagierten deren Verteidiger mit dem Vorwurf des Köhlerglaubens, des Reisepredigermaterialismus und mit dem immer einsetzbaren Joker des Atheismus, auf den letzten Endes alles hinauslaufe. Die Brisanz dieses Arguments wird heute kaum noch verstanden, weil niemand mehr Angst vor dem Atheismus hat. Der viel zitierte Satz Vogts, dass die Gedanken im Verhältnis zum Gehirn stünden, "wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren" (42), war in jedem Fall dazu angetan, dem Seelenglauben die Entfaltungsmöglichkeit zu rauben und dadurch fundamentale Glaubenswahrheiten des Christentums von Grund auf zu zerstören: ohne Seele kein Leben nach dem Tod.

Die eigentliche Bedeutung des Materialismus lag weniger auf fachwissenschaftlichem Gebiet, als auf dem der Popularisierung und allgemeinverständlichen Aufbereitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Wie bei jedem neuen Paradigma, charakterisierten sich auch die Verfechter der sich rasant entwickelnden Naturwissenschaften durch die Überschätzung ihres Leistungsvermögens. Das innovative Potenzial der Biologie, Chemie, Geologie usw. wurde durch die Anwendung auf Erscheinungen außerhalb ihrer Arbeitsbereiche überdehnt. Das führte zwangsläufig zur Kollision mit den Vertretern der Theologie und idealistischen Philosophie, die sich ihrerseits auf das Geistige in einem engen Verständnis zurückgeworfen sahen. Je vielfältiger sich die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auffächerten, desto mehr Konfliktfelder und Nebendiskurse entstanden aus dem Antagonismus zwischen wissenschaftlichem Materialismus und religionsphilosophischem Idealismus heraus. Wie Spenninger im siebten Kapitel plausibel darlegt, ist hier mit an erster Stelle der Darwinismus zu nennen, der bis dahin für unumstößlich gehaltene Annahmen über den Menschen und seine Stellung in der Welt erschütterte. In der monistischen, freigeistigen und freidenkerischen Bewegung stieß der Materialismus auf einen besonders fruchtbaren Boden. Er wurde dort weltanschaulich verarbeitet und im Anschluss daran in eine mit den Kirchen konkurrierende Lebenspraxis überführt.

Es hätte sich angeboten, den sich zuspitzenden Gegensatz von Christentum und Naturwissenschaft mit der säkularisierungstheoretischen Kategorie der "Ausdifferenzierung" zu analysieren. Dass in der vorliegenden Untersuchung nicht stärker darauf zurückgegriffen wurde, liegt in ihrer Prämisse begründet, "die" Säkularisierungsthese zu kritisieren und die falsche Annahme eines unüberwindbaren Gegensatzes von Religion und Wissenschaft als unbegründet zurückzuweisen (20-23). Als forschungsleitende Fragestellung ist "die" Konfliktthese aber zu unterkomplex und bleibt den untersuchten Diskursen und ihrer Binnennormativität zu sehr verhaftet. Es fehlt hier am Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Metaperspektive, die sich auch in der verwendeten Terminologie niederschlagen sollte. Die grundsätzlich richtige Konzeptualisierung über den Vulgärmaterialismus, den Szientismus und Fortschrittsoptimismus erscheint deswegen als etwas äußerlich und vermag der gegenseitigen Durchdringung einer materialistischen und idealistischen Denkungsart nicht in ausreichendem Maß gerecht zu werden. Mischformen sind der religionsgeschichtliche Normalfall und sollten nicht als untypische Ausnahmen von einer Regel angesehen werden, die von den Diskursbeteiligten bestimmt wird. Vor allem der Begriff des Säkularismus erweist sich für eine sachgerechte Analyse als ungeeignet (22, 68, 181, 239, 300, 340). Es handelt sich dabei um ein Schlagwort der religiösen Polemik und nicht um eine wissenschaftliche Kategorie, mit der man fundiert urteilen könnte. Hinzu kommt, dass der deutsche Ausdruck Säkularismus wesentlich negativer konnotiert ist als sein englisches Pendant und nicht das Gleiche meint wie "secularism". Den Materialismus in eine "Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und des Säkularismus" einordnen zu wollen, wie es zu Beginn der Untersuchung heißt (31), gibt ihr eine problematische Richtung vor.

Auf der historisch beschreibenden Ebene ist die Studie Spenningers sehr gut recherchiert. Ihre Quellenbasis ist umfassend angelegt und deckt auf 23 Seiten (283-386) das ganze Spektrum der archivalischen und literarischen Überlieferung ab. Die Dissertation enthält eine Vielzahl wichtiger Informationen und vermag neue Schlaglichter auf bislang unbeachtet gebliebene Aspekte zu werfen. Dadurch wird es möglich, den Materialismusstreit in seinen unterschiedlichen Ausprägungen besser zu verstehen. Hervorzuheben ist auch das sorgfältige Lektorat mit einem Sach- und Personenregister, wie man es sich für Doktorarbeiten generell wünschen würde. Die Frage, was gesellschaftlicher Fortschritt bedeutet und welche Rolle der Religion dabei zukommt, kann und will die vorliegende Untersuchung nicht beantworten. Sie weist ihre Stärke aber dadurch aus, dass sie allgemeine Konfliktlinien verständlich macht, die sich heute beispielsweise im Naturalismus des "Neuen Atheismus" fortsetzen.

Horst Junginger