Rezension über:

Stephan Lehnstaedt: Der große Nordische Krieg 1700-1721 (= Kriege der Moderne), Stuttgart: Reclam 2021, 160 S., 56 Farbabb., 17 Kt., ISBN 978-3-15-011345-5, EUR 14,95
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Rezension von:
Stefan Kroll
Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Kroll: Rezension von: Stephan Lehnstaedt: Der große Nordische Krieg 1700-1721, Stuttgart: Reclam 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36071.html


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Stephan Lehnstaedt: Der große Nordische Krieg 1700-1721

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Seit dem Jahre 2018 veröffentlicht das "Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften" der Bundeswehr die Reihe "Kriege der Moderne". Es handelt sich jeweils um Überblicksdarstellungen im Umfang von etwa 150 Seiten. Als neunter von bisher zehn Bänden ist 2021 der von Stephan Lehnstaedt zur Geschichte des Großen Nordischen Krieges erschienen, von dem zu Beginn des 18. Jahrhunderts große Teile Nord-, Ostmittel- und Nordosteuropas betroffen waren. Innerhalb der Reihe ist er damit der erste, der einen frühneuzeitlichen Krieg thematisiert, während alle übrigen bisher erschienenen Titel auf das späte 19. oder das 20. Jahrhundert fokussiert sind.

Auf der Internetseite des Zentrums kündigen die Verantwortlichen das Konzept der Reihe an: Es soll um "eine kompakte und gut lesbare Militärgeschichte unter Berücksichtigung sozial- und kulturgeschichtlicher Aspekte" gehen. Als Zielgruppe werden allgemein historisch Interessierte und vor allem Angehörige der Bundeswehr angegeben.

Mit Stephan Lehnstaedt konnte für den vorliegenden Band ein Autor gewonnen werden, der vor allem für die Erforschung der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte des Holocaust und der "Wiedergutmachungspolitik" bestens ausgewiesen ist. Auch über die polnische Geschichte hat er geforscht und veröffentlicht. Zum Großen Nordischen Krieg, wie auch allgemeiner zur Geschichte der Frühen Neuzeit hat der Verfasser dagegen bisher nur sehr sporadisch gearbeitet. Das scheint für die verantwortlichen Reihenherausgeber kein Manko gewesen zu sein, die Zielrichtung war offensichtlich eine andere.

Ein erster Blick in den Band verrät dann auch sogleich, dass hier nicht in erster Linie neue Forschungsergebnisse zu erwarten sind, sondern vorrangig - wie angekündigt - ein allgemein historisch interessiertes Publikum angesprochen werden soll. So wird auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat ebenso verzichtet wie auf die Berücksichtigung von Quellen, und die "Literaturhinweise" beschränken sich auf etwa 20, überwiegend neuere Titel. Dafür ist der Band reichhaltig bebildert. Unter den über 70, zumeist farbigen Abbildungen finden sich zwölf Aufmarschskizzen zu den wichtigsten Schlachten sowie sieben Übersichtskarten, die den Verlauf und die territorialen Auswirkungen des Krieges sehr gut veranschaulichen.

Darüber hinaus soll die Abbildung zahlreicher Gemälde und auch Fotografien das beschriebene Geschehen illustrieren. Kritisch zu sehen ist dabei der häufige Rückgriff auf die nicht-zeitgenössische Historienmalerei, deren Künstler bekanntermaßen dazu neigen, das vermeintlich autonome Handeln einzelner Personen (Helden) zu verklären bzw. zu überhöhen und damit die Entstehung von Geschichtsmythen zu befördern. Durch den hohen Bildanteil sind dem Autor nur etwa 80 Seiten und damit rund die Hälfte des Gesamtumfangs für die textliche Darstellung seines Themas geblieben.

Die Abhandlung besteht aus insgesamt elf Kapiteln. Als Einstieg wählt Lehnstaedt Auszüge aus Briefen, die der schwedische König Karl XII. 1709 nach der vernichtenden, den Krieg letztlich entscheidenden Niederlage bei Poltawa geschrieben hatte. Anschließend umreißt er die wesentlichen Rahmenbedingungen des Krieges, der besonders für die einfachen Soldaten und ihre Familien, aber auch für die zivile Bevölkerung schweres Leid mit sich brachte. Viele Landstriche wurden ausgeplündert und verwüstet, ganze Städte gingen in Flammen auf, und die von den Truppen verbreitete "Pest" wütete letztmalig in großem Umfang. Die hauptverantwortlichen Monarchen verfolgten unterschiedliche Ziele. Karl XII. wollte Schwedens Stellung als europäische Großmacht und dominante Kraft in Nordosteuropa festigen und weiter ausbauen. Seinem Hauptwidersacher, dem russischen Zaren Peter I., ging es vor allem darum, einen dauerhaften Zugang zur Ostsee zu erlangen. Dessen Bündnispartner, der sächsische Kurfürst August II., wollte seine neue Rolle als von den Ständen gewählter König Polens nutzen, um im Baltikum territoriale Zugewinne für seine Dynastie zu erlangen. Ebenfalls machtpolitische Ambitionen hegten Dänemark-Norwegen, Brandenburg-Preußen und Hannover, die zeitweilig gleichfalls der anti-schwedischen Allianz angehörten.

Am Ende des Krieges hatte Schweden seine Vormachtstellung in Nordosteuropa eingebüßt, während es Russland gelungen war, seine wesentlichen geostrategischen Ziele zu erreichen. Auch Brandenburg-Preußen und Hannover profitierten vom Niedergang der schwedischen Vormachtstellung in Nordosteuropa. Beide konnten ehemals schwedische Besitzungen innerhalb des Alten Reichs für sich hinzugewinnen. Ohne die erhofften territorialen Zuwächse endete der Große Nordische Krieg für Sachsen wie für Dänemark-Norwegen, dem es nicht gelungen war, seinen alten Widersacher Schweden am Øresund zurückzudrängen und die ehemals dänischen, seit 1658 schwedischen Provinzen Blekinge, Halland und Schonen zurückzuerobern.

Lehnstaedts Darstellung des Krieges ist im Kern eine sehr gut nachvollziehbare, teilweise sogar spannend zu lesende Beschreibung und Diskussion der wichtigsten militärischen und politischen Ereignisse - beginnend mit der russischen Kriegserklärung an Schweden im August 1700 und endend mit dem Frieden von Nystad 1721. Damit werden insgesamt sieben Kapitel (4 bis 10) ausgefüllt. In den beiden vorangehenden Abschnitten 2 und 3 werden einerseits die machtpolitische und die sozioökonomische Ausgangslage der kriegführenden Mächte vorgestellt und andererseits eine recht ausführliche Analyse der wichtigsten am Krieg beteiligten Armeen (Schweden, Russland, Sachsen und Polen) vorgenommen. Dabei kommt der Autor im Gegensatz zur älteren Forschung zu der Einschätzung, dass die Militärreformen des Zaren vor allem deshalb so viel Erfolg nach sich zogen, weil sie an den geopolitischen Notwendigkeiten der russischen Situation ausgerichtet waren. Der Triumph über Schweden sei gerade kein Resultat einer Orientierung am vermeintlich "modernen" Westen gewesen.

Angesichts der militärischen Komplexität des insgesamt mehr als 20 Jahre andauernden Krieges und des sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Raumes ist es nicht überraschend und durchaus nachvollziehbar, dass sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte des Großkonflikts eher nur am Rande eine Rolle spielen. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang aber das abschließende Kapitel 11, da es nicht nur die unmittelbaren zeitgenössischen Folgen des Großen Nordischen Krieges beleuchtet, sondern darüber hinaus auch langfristige Nachwirkungen thematisiert. Hier zeigen sich große Unterschiede. Schon die Bewertung durch die Historiographie der beteiligten Länder fällt keinesfalls einheitlich aus. Erst recht gilt dies für die Erinnerungskultur und die damit verbundene Gedächtnispolitik heutiger Staaten. So gibt es in Russland und in der Ukraine sehr konträre Vorstellungen davon, welche Ereignisse des Krieges als besonders erinnerungswürdig einzustufen sind. Während von russischer Seite der Triumph über die Schweden bei Poltawa als ein entscheidender Grundstein für die spätere Großmachtwerdung hervorgehoben wird, gedenken Ukrainer vor allem einem Massaker an Tausenden Angehörigen der kosakischen Zivilbevölkerung (bei Baturyn), deren Unabhängigkeitsbestrebungen im Großen Nordischen Krieg für lange Zeit ein Ende fanden.

Fazit: Stephan Lehnstaedt legt eine kenntnisreiche und gut lesbare Kurzdarstellung des Großen Nordischen Krieges vor, die auch in der Auswahl der Schwerpunkte überzeugen kann. Es wäre zu wünschen, dass die vorrangig auf ein breiteres Publikum zielende Veröffentlichung auch dazu anregt, die Erforschung dieses wichtigen, bisher weniger im Fokus stehenden frühneuzeitlichen Krieges weiter voranzutreiben. Eine thematisch umfassende, die vorhandenen Quellen und die internationale Forschung gleichermaßen breit berücksichtigende Gesamtdarstellung des Krieges bleibt vorerst noch ein Desiderat.

Stefan Kroll