Rezension über:

Levi Roach: Forgery and Memory at the End of the First Millennium, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2021, XXIX + 325 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-0-691-18166-0, USD 45,00
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Rezension von:
Clara Harder
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Clara Harder: Rezension von: Levi Roach: Forgery and Memory at the End of the First Millennium, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/35734.html


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Levi Roach: Forgery and Memory at the End of the First Millennium

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Eigentlich kann man es sehr kurz machen: Dieses Buch ist ein Triumph der Diplomatik und gleichzeitig eine wunderbare Werbung für diese essentielle Teil-Wissenschaft der Mediävistik. Levi Roach's Studien über urkundliche Fälschungen um das Jahr 1000 sind unbedingt zu empfehlen und ihr sind viele Leser zu wünschen.

Roach ist ein ausgewiesener Experte der angelsächsischen Welt des 10. Jahrhunderts. Bleibt er dieser Zeit auch in seinem neuesten Buch treu, so blickt er aber weit über den bisher von ihm bearbeiteten Raum hinaus. Sein Programm ist überraschend, anregend und anspruchsvoll. Er bietet einen Vergleich von fünf verschiedenen ge- und verfälschten Urkundenkomplexen, die um das Jahr 1000 (ca. 970-1020) in vier verschiedenen Reichen (ostfränkisches Reich, England, Frankreich, Italien) entstanden. Die Arbeit betritt insofern Neuland, da in diesem Themenfeld komparative Studien, die sich über mehrere Reiche erstrecken, durchaus als Mangelware zu bezeichnen sind. Dies betrifft sowohl mittelalterliche Urkunden im Allgemeinen als auch Fälschungen im Speziellen. Da Roach sich jederzeit auf der Höhe der Forschung bewegt, darf man das Ergebnis als überaus gelungen bezeichnen. Seine elegant erzählten Analysen sind tiefgehend und seine Argumentation ist sorgfältig abwägend, mit Mut zum Urteil und in den jeweiligen Einzelbefunden absolut überzeugend.

Roach legt den inhaltlichen Fokus seines Vergleiches auf die Frage, wie die von ihm untersuchten Urkunden nicht nur als Rechts- sondern als Geschichtsfälschungen zu verstehen sind, die auch darauf abzielten das entstehende kulturelle Gedächtnis ihrer Zeit (und der Nachwelt) zu beeinflussen. Dieser Ansatz im Umgang mit mittelalterlichen Fälschungen darf als etablierter gelten, als Roach es einleitend zu verstehen gibt (17). Er erfährt seine Berechtigung nicht zuletzt dadurch, dass die jeweiligen Urkunden insbesondere die Frühzeit der betreffenden Diözese bzw. des Klosters neu geschrieben bzw. durch Zusätze fiktiv erweitert haben, um der eigenen, lokalen Geschichte eine Bedeutung zu verleihen, die sie im Bewusstsein der Zeitgenossen (noch) nicht hatte. Die Parallelen im Vorgehen der jeweiligen Fälscher liegen vor allem in dieser grundsätzlichen historischen Wendung, die vorgenommen wird, um ihren konkreten Anliegen eine (fiktive) Autorität zu verleihen. Unterschiede lassen sich auf vielen Ebenen feststellen, nicht zuletzt im Hinblick auf die handwerkliche Raffinesse der Fälscher.

Leider kann die Einleitung - im Gegensatz zum Rest des Buches - nur wenig überzeugen. Sie wurde von Roach laut eigener Aussage bewusst einfach gehalten, um Einsteiger in die Materie nicht abzuschrecken. Diese flüchtige Einführung in die Welt der Diplomatik und der mittelalterlichen Fälschungen sollten fortgeschrittene Mediävisten aber lieber überspringen. Mehr als flüchtig wird über die großen Fälschungen des 8. und 9. Jahrhunderts hinweggegangen, ebenso über die dazugehörige Forschung. Zwar wird das Constitutum Constantini immerhin am Anfang (aber nicht in der Zusammenfassung) erwähnt, die pseudoisidorischen Fälschungen tauchen in der Einleitung hingegen gar nicht auf. Methodisch und inhaltlich kann nur wenig Gewinn aus der Lektüre der Einleitung gezogen werden und oberflächlich differenzierende Begrifflichkeiten (z.B. die Unterscheidung von den 'Motiven' und 'Intentionen' eines Fälschers) werden in den Einzelstudien nicht mehr aufgegriffen.

Auf die zahlreichen Ergebnisse der Einzelstudien soll hier nicht detailliert eingegangen werden, obwohl Roach einige Neubewertungen vornimmt und auch sonst interessante Befunde erarbeitet. Für die jeweils untersuchten Quellenkomplexe wird zukünftig jedenfalls niemand an Roach vorbeikommen. Bemerkenswert ist in den Augen dieser Rezensentin aber darüber hinaus die in allen Kapiteln an den Tag gelegte minutiöse Analyse der materiellen Überlieferung, die sorgfältige argumentative Auseinandersetzung mit der jeweiligen Forschung seit dem 19. Jahrhundert, die Berücksichtigung auch neuester Forschungsergebnisse und Editionen, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der Roach seine Leser in die verästelten Details der Überlieferung mitnimmt ohne dabei den historischen Kontext aus den Augen zu verlieren. Fast schon nebenbei erfährt man so Grundlegendes über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Urkundenproduktion in den verschiedenen christlichen Reichen des lateinischen Europas und über das Selbstverständnis klerikaler Institutionen am Vorabend der Kirchenreformen. Routiniert erläutert er die Machtverhältnisse in Worms und Passau, Strukturen der englischen Kirche vor der normannischen Eroberung, die Bedeutung päpstlicher Dekretalen im 10. Jahrhundert oder die unübersichtliche politische Situation in Italien um das Jahr 1000. Mit viel mentalitätsgeschichtlichem Gespür erörtert Roach Aspekte von Wahrheit und Fiktion in der mittelalterlichen Überlieferung und lenkt dabei immer wieder den Blick auf die Bedeutung, welche die Fälscher im Reich, in England, Frankreich und Italien der Vergangenheit beimaßen, um ihre gegenwärtigen und zukünftigen Ziele zu erreichen.

Die Konjunktur von Fälschungen im späten 10. Jahrhundert ordnet Roach am Ende seiner Überlegungen schließlich in einen größeren Zusammenhang von Veränderungsprozessen am Ende des ersten Jahrtausends im lateinischen Europa ein. Trotz einer gewissen Erwartbarkeit einzelner Ergebnisse (z.B. die zunehmende Bedeutung von Schriftlichkeit im rechtlichen Bereich und bei Herausbildung lokaler Identität oder lokale Autoritätskonflikte als Auslöser für Fälschungsunternehmungen) führt Roach die verschiedenen Fäden seiner Einzelstudien treffend zusammen und verbindet sie mit einem Rück- und Ausblick auf die Entstehung und Bedeutung von dokumentarischen Fälschungen im Mittelalter. Mehr kann ein einzelnes Buch kaum leisten. Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung bietet auch die Zusammenfassung jedenfalls zur Genüge.

Zahlreiche Illustrationen unterstreichen Roach's Ausführungen und verstärken den Eindruck, dass der Autor über eine keineswegs selbstverständliche handwerkliche Souveränität verfügt, die dieser Rezensentin großen kollegialen Respekt abnötigt. Leider hat der Verlag auf farbige Abbildungen verzichtet und auch die Auflösung ist nicht immer zufriedenstellend. Dennoch bekommt man bei der Lektüre sofort Lust, das nächste Archiv aufzusuchen und sich in die Überlieferung zu stürzen. Levi Roach's ebenso inspiriertes wie überzeugendes Buch zeugt von der Lebendigkeit einer Materie, die völlig zu Unrecht als verstaubter Studentenschreck gilt. Fast möchte man sagen: Wenn Sie nur ein Buch über mittelalterliche Urkunden lesen, dann lesen Sie dieses!

Clara Harder