Rezension über:

Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren (= Schriftenreihe Menschenrechte im 20. Jahrhundert; Bd. 5), Göttingen: Wallstein 2020, 319 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3641-4, EUR 32,90
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Rezension von:
Marina Hilber
Universität Innsbruck
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Empfohlene Zitierweise:
Marina Hilber: Rezension von: Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/34587.html


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Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht

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Aktuelle Kalkulationen rechnen für das Jahr 2100 mit einer Weltbevölkerung von 10 bis 13 Milliarden Menschen. Dieser deutliche Zuwachs wird mittlerweile im Kontext der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Klimakrise diskutiert und zunehmend als Umweltproblem deklariert. Doch nach wie vor werden auch Szenarien von Nahrungsmittelknappheit, Verarmung und politischer Destabilisierung krisengebeutelter Regionen gezeichnet.

Roman Birkes Studie zu Überbevölkerungsdiskursen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deshalb höchst aktuell. Die Monographie basiert auf der 2018 an der Universität Wien abgeschlossenen Dissertation des Autors, die an der Nahtstelle von Globalgeschichte, Menschenrechtsgeschichte und der Geschichte der Reproduktion angesiedelt ist. Die globalgeschichtliche Ausrichtung wird an der Wahl des Untersuchungsraumes deutlich, denn Birke rückt die international agierenden Organisationen der Vereinten Nationen (UN), die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation des Population Council sowie die International Planned Parenthood Federation in den Fokus. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Zeit von 1945 bis Mitte der 1990er Jahre, als mit der Definition reproduktiver Rechte auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (1994) die Bestrebungen menschenrechtlicher Rahmung dieses Rechtskomplexes zementiert wurden. Mithilfe von Rückblicken in die Zwischenkriegszeit werden zudem (Dis-)Kontinuitäten etwa im Bereich eugenischer Forschungen offengelegt.

Birkes primäres Forschungsinteresse ist es, die diskursiven Bezüge auf Menschrechte im Bereich der Geburtenkontrollbewegung zu identifizieren, ihre Stoßrichtung zu analysieren und die legitimatorische Adaption von Menschenrechten in biopolitischen Diskursen zu reflektieren. Durch die Fokussierung auf die drei genannten Organisationen und die Analyse ihrer offiziellen Protokolle, Konferenzberichte und Resolutionen, aber auch archivalischer Quellen wie Korrespondenzen, gelingt es Roman Birke, ein sehr breites Spektrum an Akteurinnen und Akteuren abzustecken und deren ideologische Verortung und politische Motivationen zu hinterfragen. Dabei belässt es Birke nicht bei einer Identifikation wichtiger Diskursstränge, sondern versucht zudem der Wirkmacht des Diskurses nachzuspüren. Anhand von vier Fallstudien wird die Positionierung der USA, Indiens, Jugoslawiens und Irlands auf internationaler Ebene beleuchtet; dann untersucht der Autor die konkreten Angebote dieser Länder zur Familienplanung auf nationaler Ebene.

Die Studie präsentiert darüber hinaus eine minutiöse Chronologie der Entwicklung des Überbevölkerungsdiskurses seit den 1940er Jahren. Birke erkennt dabei vier Phasen der argumentativen Nutzbarmachung der Menschenrechte für bzw. gegen die Agenden der Familienplanerinnen und Familienplaner. In der Frühphase galt es, für das Problem der drohenden Überbevölkerung zu sensibilisieren. Die menschenrechtliche Grundierung diente den Akteurinnen und Akteuren als Abgrenzung zu den nationalsozialistisch und/oder rassistisch motivierten bevölkerungspolitischen Konzepten der Zwischenkriegs- und Kriegszeit. Birke arbeitet in diesem Teil deutlich heraus, dass die Thematik immenses gesellschafts- und globalpolitisches Konfliktpotential besaß. Mit dem Kalten Krieg und dem Beginn der Dekolonisierung intensivierten sich die Auseinandersetzungen, denn die Angst vor einer Ausbreitung des Kommunismus bestimmte den westlichen Diskurs. Politische Einmischung wurde von den ehemaligen Kolonien hingegen meist abgewehrt, die Unterstützung von außen war somit nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse und ethische Gratwanderung. Erschwerend hinzu kam, dass in dieser ersten Phase eine Definition dessen, was unter einem Menschenrecht auf Familienplanung im engeren Sinn zu verstehen sei, fehlte und die Grenzen zwischen humanitären und menschenrechtsbasierten Forderungen nach wie vor fließend waren.

Eine zweite Phase zeichnete sich ab Mitte der 1960er Jahre ab. Menschenrechte wurden fortan offensiver genutzt, um die Agenden globaler Familienplanung zu legitimieren. In dieser Phase kam es zu einer verstärkten Vernetzung privater, wissenschaftlicher und staatlicher Akteurinnen und Akteure. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Diskussion über Geburtenkontrolle als Menschenrecht im Jahr 1968, das von der UN als Jahr der Menschenrechte deklariert worden war. Strategien gegen das Bedrohungsszenario eines ungebremsten Bevölkerungswachstums dominierten nicht nur die Eröffnungsrede des UN-Generalsekretärs U Thant zur Weltmenschenrechtskonferenz in Teheran, sondern mündeten dort in der internationalen Resolution "The Human Rights Aspects of Family Planning". Maßnahmen zur Familienplanung wurden nicht mehr nur als Weg gesehen, um gegen Armut und Hunger vorzugehen und internationalen Konflikten vorzubeugen, sondern vor allem, um die Einhaltung der universellen Menschenrechte zu forcieren. Trotz dieses historischen Etappensiegs blieb die menschenrechtliche Rahmung ein Diskussionsthema, das innerhalb der involvierten Organisationen immer wieder Neupositionierungen und Weiterentwicklungen anstoßen sollte.

Diese fragile Position führte in den 1970er Jahren zu intensiven Prozessen der Ausdeutung. Man kam allmählich zum Schluss, dass die Bereitstellung von Verhütungsmitteln allein nicht zum Ziel einer nachhaltigen Bevölkerungsplanung führen würde, sondern dieses nur über eine soziale Aufwertung der Frau erreicht werden könne. In Phase drei wurde deshalb ein Strategiewechsel initiiert, und es wurden neue Allianzen geschmiedet. Neue Akteurinnen und Akteure, allen voran Frauenrechtsorganisationen und Vertreterinnen und Vertreter des Völkerrechts, traten auf den Plan. Gerade die Frage nach der Legitimität von Zwangsmaßnahmen, die individuelle Rechte beschnitten, um das Kollektiv zu schützen, sollte zu hitzigen Debatten führen. Diese läuteten eine vierte Phase ein, nachdem zusehends die negativen Folgen der Beschränkung individueller Reproduktion ans Licht kamen. Als Extrembeispiel wird hier vor allem auf die von der Regierung Indira Ghandis verordneten Zwangssterilisierungen während des indischen Ausnahmezustands hingewiesen.

Die nationalen Fallstudien werfen zwar faszinierende Schlaglichter auf unterschiedliche Kulturräume, bleiben aufgrund der verwendeten Quellenbestände jedoch an der Oberfläche. Es hätte der Studie gut getan, sich noch stärker auf die wachsende Zahl an Studien sozial-, medizin- und geschlechtergeschichtlicher Provenienz einzulassen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Verwendung geschlechtergerechter Sprache im Rahmen der Studie unterlassen wurde.

Insgesamt zeichnet Birkes Studie die globalen Diskursivierungsprozesse anschaulich und detailreich nach. Mit der konsequenten Analyse globalgeschichtlicher Zusammenhänge gelingt es dem Autor, die internationalen Bemühungen im Bereich der Geburtenkontrolle zu skizzieren und die relevanten Entwicklungslinien zu verdeutlichen.

Marina Hilber