Rezension über:

Walter Pape / Jiří Šubrt (Hgg.): Mitteleuropa denken. Intellektuelle, Identitäten und Ideen. Der Kulturraum Mitteleuropa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2019, X + 508 S., ISBN 978-3-11-053501-3, EUR 102,95
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Rezension von:
Patrick Reitinger
Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Reitinger: Rezension von: Walter Pape / Jiří Šubrt (Hgg.): Mitteleuropa denken. Intellektuelle, Identitäten und Ideen. Der Kulturraum Mitteleuropa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/36088.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Walter Pape / Jiří Šubrt (Hgg.): Mitteleuropa denken

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Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass noch immer neue Bücher erscheinen, die sich in irgendeiner Form mit der Kategorisierung dieses besonderen Raumes beschäftigen: Schließlich ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten oft und ausführlich über das Für und Wider unterschiedlicher Begrifflichkeiten für Mittel- und/oder Zentraleuropa gestritten worden. Dabei ist spätestens seit den konstruktivistischen und kritischen Perspektiven auf diese Raumbegriffe klar, dass derartige Namensgebungen oftmals eine ganze Menge mehr Probleme erzeugen, als sie zunächst zu lösen vorgeben.

Trotzdem scheint das Nachdenken über den Mitteleuropa-Begriff nach wie vor eine gewisse Faszination auszuüben. Dem Sammelband von Walter Pape und Jiří Šubrt gelingt es durchaus, dieses immerwährende Interesse am Konstruieren von Räumen mit einer interessanten Perspektive zu verbinden. Es geht den Herausgebern gerade nicht darum, "in die Debatten über Grenzen und Wesen Mitteleuropas ein[zu]steigen oder Partei [zu] ergreifen". (1) Sie versuchen vielmehr, über ausgewählte Intellektuelle, die in ihrem Wirken am ständigen Austarieren des Mitteleuropa-Begriffs mitarbeiteten, einen Zugang zu diesen diskursiven Raumkonstruktionen zu schaffen. Ziel des Sammelbandes soll dabei "nicht eine retrospektiv analytische Bestandsaufnahme der entstandenen interkulturellen Konflikte und Kämpfe [sein], sondern vielmehr, an dem Wirken oder Werk einzelner Persönlichkeiten dieses intellektuelle Erbe und diesen Beitrag zur gemeinsamen europäischen Kultur bis in die heutige Gegenwart hinein zu verdeutlichen und zu aktualisieren" (ebenda).

Die Herausgeber und Verfasser versuchen dieses Ziel in sieben Kapiteln, denen jeweils einzelne oder mehrere Aufsätze zugeordnet sind, umzusetzen. Bei der Gestaltung der Kapitel wurde darauf geachtet, die unterschiedlichen disziplinären Hintergründe der untersuchten Intellektuellen so zusammenzuführen, dass eine ausgewogene Anzahl an Einzelaufsätzen eine übergeordnete und gemeinsame Perspektive erzeugt. In einer ausführlichen Einleitung von Pape werden die Grundzüge der bisherigen Mitteleuropa-Konzeptionen mit den beiden Schlagworten "Verlusterfahrung" und "Utopie" dargestellt: "Vor 1989 blickte man auf 'Mitteleuropa' zurück als etwas Vergangenes und Utopisches, politisch, sozial und vor allem kulturell [...]". (9) Das erste Kapitel, das lediglich aus einem einzelnen Beitrag besteht, greift geschichtlich weit zurück, indem die Grundlagen eines "mitteleuropäischen" Charakters in der Prager Residenzarchitektur um 1500 verortet werden.

Ab dem zweiten Kapitel wird der Untertitel des Sammelbandes dann zum Programm, indem ab nun Mitteleuropa-Konzeptionen aus der politischen Geschichte des 20. Jahrhundert in den Blick genommen werden. Dies geschieht über zentrale Persönlichkeiten wie Tomáš Garrigue Masaryk, Friedrich Naumann, Engelbert Dollfuß und Václav Havel. Das dritte Kapitel vereint verschiedene Beiträge aus der Geschichte der europäischen Soziologie und Ideengeschichte. Auch hier sind es unterschiedliche Persönlichkeiten wie Karl Mannheim, Ernest Gellner oder Julie Moscheles, die näher auf ihre Mitteleuropa-Vorstellungen hin untersucht werden. Im Zentrum des vierten Kapitels stehen verschiedene Schriftsteller und ihre kulturpolitischen Interventionen, über die sie an der Konstruktion eines "Kulturraums Mitteleuropa" mitwirkten. Es geht um Akteure wie Max Brod und Georg Mannheim, um Karel Čapek und Ferdinand Peroutka, aber auch um den hebräischen Humanismus in Odessa und Warschau. Raumkonstruktionen durch Sprache werden im fünften Kapitel in den Blick genommen. Hier sind es Franz Thierfelders, Eduard Goldstücker, Franz Kafka und Georg Lukács, die näher untersucht werden. Ein noch stärkerer Fokus auf Mitteleuropa in der Literatur wird im sechsten Kapitel gelegt und hier wird wieder Kafka, aber auch Robert Musil und Max Zweig für die Analyse herangezogen.

Literatur bleibt schließlich auch im siebten und letzten Kapitel leitendes Motiv, wobei nun stärker auf die Funktion von Literatur für die Konstruktion einer raumbezogenen, mitteleuropäischen Identität geachtet wird. Hier werden Werke von Elias Canetti und Franz Baermann Steiner, von Danilo Kiš und Miroslav Krležas, Milan Kundera und Jiří Gruša aufgegriffen. Die untersuchten Autoren waren in unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Zeiten zuhause, und doch machen die Beiträge in diesem Kapitel deutlich, dass sie durch das literarische Nachdenken über Mitteleuropa ganz bewusst an den Prozessen raumbezogener Identitätskonstruktion mitwirken wollten. Die Auswahl der Autoren zeigt dann auch, wie sehr zeit- und ortsgebunden diese literarischen Beiträge doch sind und wie stark sich die eigenen Lebenserfahrungen der Schriftsteller, entscheidend geprägt in der ersten oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf die Interpretationen auswirkten.

Viele der Aufsätze enthalten für sich genommen wenig Überraschendes, wenn man von Leser*innen ausgeht, welche die Debatten um den Mitteleuropa-Begriff in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten intensiv verfolgt haben. Alle anderen bekommen aber einen breiten Überblick über die Konstruktion eines "Kulturraums Mitteleuropa" im 20. und 21. Jahrhundert vermittelt. Durchaus spannend ist zudem die zusammenführende Darstellung einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Perspektiven in einem Buch, weil man so die Möglichkeit hat, in kompakter Weise Querverbindungen und Vergleiche herzustellen, die an anderer Stelle vielleicht ausgeblendet werden. Fraglich bleibt, ob tatsächlich fast ausschließlich Männer an den Konstruktionsprozessen mitwirkten; der verstärkte Blick auf intellektuelle Frauen im 20. und 21. Jahrhundert wäre an der einen oder anderen Stelle gewiss inspirierend gewesen. Zudem ist es möglicherweise der starken Fokussierung auf konkrete Intellektuelle geschuldet, dass in der Gesamtschau vor allem die Mitteleuropa-Konzeptionen von Schriftstellern und Literaten hervorstechen, da diese vielleicht in einer größeren Zahl für die Analysen greifbar waren - vielleicht ist es aber auch einfach die Auswahl der Verfasser für die einzelnen Beiträge, die durch deren disziplinäre Hintergründe zu dieser stark sprach- und literaturwissenschaftlichen Zusammenstellung führte.

Schließlich kann vielleicht noch kritisch angemerkt werden, dass den auf vielen Voraussetzungen beruhenden Bedeutungen des Kulturraum-Begriffs in den einzelnen Beiträgen zu wenig Platz eingeräumt wurde. Indem der Sammelband versucht, die verschiedenen Ansätze von Mitteleuropa-Konzeptionen bei den einzelnen Intellektuellen des 20. und 21. Jahrhunderts zusammenzustellen, ist auch das Buch selbst Teil des Konstruktionsprozesses geworden. Die Herausgeber und Verfasser setzen durch die Fokussierung auf den Mitteleuropa-Begriff ein Raumkonstrukt voraus, dessen Konstruktion durch Intellektuelle sie in den verschiedenen Beiträgen dann (kritisch) in den Blick nehmen möchten. Dieses Mitkonstruieren hätte in den einzelnen Beiträgen noch stärker reflektiert werden können.

Mit den Beiträgen wird das Ziel erreicht, erneut auf die lange Tradition der Mitteleuropa-Konzeptionen hinzuweisen. Dass das Bedürfnis nach diesen Konstruktionsleistungen bis heute aktuell ist, wird das gesamte Buch hindurch deutlich. Inwiefern und für wen das immer wieder neue Nachdenken über Mitteleuropa produktiv sein kann, bleibt am Ende dann aber doch offen.

Patrick Reitinger