Rezension über:

Tina M. Campt / Marianne Hirsch / Gil Hochberg et al. (eds.): Imagining Everyday Life. Engagements with Vernacular Photography, Göttingen: Steidl-Verlag 2020, 431 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-95829-627-5, EUR 40,00
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Rezension von:
Marietta Kesting
Akademie der Bildenden Künste, München
Redaktionelle Betreuung:
Katharina Jörder
Empfohlene Zitierweise:
Marietta Kesting: Rezension von: Tina M. Campt / Marianne Hirsch / Gil Hochberg et al. (eds.): Imagining Everyday Life. Engagements with Vernacular Photography, Göttingen: Steidl-Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/34922.html


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Tina M. Campt / Marianne Hirsch / Gil Hochberg et al. (eds.): Imagining Everyday Life

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Der umfangreiche Sammelband präsentiert hauptsächlich unbekannte Fotos aus der Sammlung der Walther Collection, einer Kunststiftung, die sich historischer und zeitgenössischer Fotografie widmet. Gleichzeitig dokumentiert er ein Symposium, welches 2018 stattfand. Die hier veröffentlichten Fotos - 643 Bilder auf 432 Seiten - kommen aus völlig verschiedenen Kontexten. Ein großer Teil entstand in privaten Settings. Fast alle zeigen Menschen, die meisten sind Porträts. [1]

Barbara Kirshenblatt-Gimblett beginnt mit der Bemerkung: "no photograph was born vernacular" (11). Mehrere der Autoren und Autorinnen thematisieren die Schwierigkeiten des titelgebenden Begriffs, nicht zuletzt wegen seiner Herkunft aus dem Lateinischen von "verna" - "im Haus geborener Sklave" - und seiner impliziten Nähe zu Bedeutungen wie "provinziell", "außerhalb des Kanons." Positiv gewendet könnte das "authentischer", "unverstellter", heißen. Viele Autoren und Autorinnen des Bandes schlagen alternative Begriffe wie "ambivalent images" vor.

Der Sammelband ist damit Teil mehrerer Debatten innerhalb der Fotografie-Theorie, die neben Alltags- und Gebrauchsfotografien sowohl das afrikanische Fotoarchiv als auch das LGBT-Archiv betreffen. [2] Viele der Fotos sind in problematischen, von Machtverhältnissen nachhaltig geprägten Settings entstanden, wie Bilder aus dem kolonialen Archiv, aber auch ID-Fotos von migrantischen Farmarbeitern und Farmarbeiterinnen sowie Büro-Arbeitsausweise aus den USA. Die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, diese Bilder zu zeigen, deren ehemalige Besitzer oder Besitzerinnen wahrscheinlich längst verstorben sind, und die hier ästhetisiert werden, stellt sich nachdrücklich. Welche und wessen Fotos sehen wir? Es sind solche, die nicht von Nahestehenden aufgehoben wurden, sondern die verloren gingen, oder nie den fotografierten Subjekten selbst gehörten.

Patricia Hayes unterstreicht dieses Dilemma in ihrem Text und fragt in absichtlich aufgebrachten Ton: "Cannot photographs just be photographs? Can 'vernacular' escape hierarchical judgement [...]?" Sie zieht die Bilanz, dass dies insbesondere für afrikanische Fotografie nicht möglich sei, denn genau die Benutzung des Labels vernacular "[...] is to leave the mainstream and dominant categories intact, adding weight to the ongoing misconception of African photographs as derivative and belated" (42). Gerade im Hinblick auf das afrikanische Fotoarchiv sei die Wahrnehmung durch das Fehlen präkolonialer Dokumente völlig verzerrt und Aufnahmen von afrikanischen Herrschern und Herrscherinnen nach ihrer Gefangennahme durch die europäischen Kolonisatoren und Kolonisatorinnen stellten eine einseitige Perspektive für die Geschichtsschreibung dar. Ähnlich wie Azoulay es formuliert, vergleicht Hayes die Aktion der Kamera in diesem Kontext mit der einer Guillotine (45).

Wenn in den Texten diese Gewalttätigkeit von Fotografien so klar thematisiert wird, stellt sich beim Studium des Bandes die Frage, warum sie dann dennoch abgedruckt werden, wie zum Beispiel die ganzseitige Abbildung von W. Rausch "Queen Lomadlozi next to Lobins Mother" ca. 1890 (44). Zu sehen ist eine betagte afrikanische Frau mit nacktem Oberkörper, die auf den Boden außerhalb des Fotos blickt. Wiederholt dieser Akt des Zeigens nicht die verletzende Logik und ermöglicht Lesern und Leserinnen die "Anderen" zu konsumieren? Da der Band den Schwerpunkt auf das Zeigen von Fotografien legt, bleibt hier eine Spannung, da die Produzenten und Produzentinnen ebenso wie die Fotografierten nicht mehr gefragt werden können. Gleichzeitig zeigt sich hier ein Grundproblem, das nicht aufzulösen ist. Wie Hayes betont, existieren aus Afrika keine fotografischen Bilder aus dem präkolonialen Kontext. Die belasteten Bilder sind die einzigen, die vorhanden sind und die weiterhin auch in der Gegenwart rassistisch aufgeladen werden können und das historische Dispositiv der Fotografen und Fotografinnen mit abbilden.

Ein weiteres prekäres Archiv wird ebenfalls mit mehreren Fotokonvoluten gezeigt und stellt sogar das Coverbild. Es sind queere (Selbst-) Porträts, teilweise mit Pseudonymen und in Drag. Sie zeigen die lustvolle Inszenierung von LGBT-Communities und waren vor dieser Veröffentlichung, außer in queeren Archiven, nur für zur Szene gehörige Blicke sichtbar.

Diese Umstände führen direkt in die tiefere Diskussion um den Primat der "Sichtbarkeit", das Voyeuristische und Taxonomische, sowie die Rolle von Archiven, Sammlungen und Ausstellungen, otherness visuell konsumierbar zu machen. Es ist eine Stärke des Bandes, genau diese Problematiken anzusprechen, wenngleich sie in den eher kurzen Texten nicht erschöpfend diskutiert werden können. Beispielhaft dafür steht Drew Thompsons Analyse der ambivalenten Geschichte der Polaroids, die jenseits ihres Gebrauches als Familien- und 'Spaß'-Fotos, für normierende ID-Fotos in Südafrika während der Apartheid und für persönliche Fotos von Gefangenen in den USA benutzt wurden. Thy Phu vergleicht dagegen ein historisches All-American Familien-Foto-Album (1908-16) mit einem anonymen Album der Thu Duc-Militärakademie (1951-57), welches homosoziale Beziehungen innerhalb der Kadetten in Südvietnam andeutet. Thu bemerkt, dass das letztere nur erzählt, indem es Dinge auslässt, und argumentiert damit gegen die Vorrangstellung der Sichtbarkeit.

Durch die Überführung der privaten Bilder in eine Sammlung, geht es auch um eine erweiterte Frage eines "Bilderhandelns" und die Institutionalisierung einst außerhalb des Kanons stehender fotografischer Genres. Der Kontext, in dem bestimmte Fotografien ausgestellt werden oder mit Johanna Schaffer "zu-sehen-gegeben" werden (2008), ist immer signifikant. Die privaten Fotos werden durch die Walther Collection in einem globalen Kontext sichtbar und der akademischen Forschung zugänglich gemacht.

Bedeutend sind hierfür die kommentierenden Anmerkungen zu den einzelnen Fotos, die aber nicht neben, nach oder unter ihnen folgen, sondern erst in einem späteren kleingedruckten Textteil zusammengefasst sind. Warum werden die historischen Titel nicht direkt mit der gegenwärtigen Kritik an ihnen konfrontiert? [3]

Aufgrund dieser Isolierung von Fotos und ihrer kritischen Einordnung, changiert der Band zwischen einem reich bebilderten, leicht konsumierbaren Coffee-Table-Fotobuch und einer akademisch anspruchsvollen und sehr sensiblen Auseinandersetzung mit den Fotografien. Insbesondere die Texte sowie die Diskussionen stellen einen wertvollen Einstieg und Überblick in fototheoretische Fragestellungen dar.


Anmerkungen:

[1] Ausnahmen sind einige (amateur-)wissenschaftliche Fotos in Teil 1 und Landschaftsfotografien in Teil 5.

[2] Siehe z. B. Mark Sealy: Decolonizing the Camera. Photography in Racial Time, London 2019; Jonathan Bellers: The Message is Murder. Substrates of Computational Capital, London 2018 oder Arianna Arcara / Luca Santese: Found Photos in Detroit, Pianello Val Tidone PC 2012.

[3] Siehe Seite 88-89: Unidentified Photographers (American), [Portraits of sailors and hula girls] ca. 1945. Hier scheinen 'exotische' Frauen als Sexobjekte und (fotografische) Beute siegreicher amerikanischer Soldaten ausgestellt. Auf Seite 109 folgt die (autor- oder autorinnenlose) Anmerkung: "[...] many American sailors had photographs made posing with so-called hula girls. Hawaiian women wearing stereotypical grass skirts. The representations of these hula girls' photographed at places like Tom and Jerry's Tattoo Parlor and Photo Arcade in Honolulu, epitomized racially insensitive and misogynistic views of Pacific Island women as available erotic object".

Marietta Kesting