Rezension über:

Anna Jerratsch: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften; Bd. 71), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 583 S., 23 s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-515-12517-8, EUR 84,00
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Rezension von:
Marion Gindhart
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Marion Gindhart: Rezension von: Anna Jerratsch: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/34663.html


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Anna Jerratsch: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften

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Mit ihrer Dissertation zur deutschsprachigen Kometenpublizistik des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt Anna Jerratsch eindrücklich, was eine umfassende und zugleich auf präzisen Analysen fußende epistemologische Betrachtung dieser Texte für die Fortschreibung der Wissen(schaft)sgeschichte im Sinne einer "kontextualisierte(n) Kulturgeschichte des Wissens" (57) zu leisten vermag.

Gerade die Kometenliteratur, die eine Vielzahl von Wissensbeständen inkorporiert und damit plurale Zugänge zur Erklärung und Deutung der 'geschwantzten Sterne' bietet, ist eine ideale Basis, um zeitgenössischen Prozessen der Wissensformierung und -transformation nachzugehen. Dies verdeutlicht der einleitende Teil der Arbeit (15-116), der zum einen die Relevanz speziell von Kometenflugschriften als wissenschaftshistorischen Quellen umreißt sowie die theoretischen Ansätze und Ziele der Untersuchung benennt, und der zum anderen einen fundierten Einblick in die Geschichte des Kometenwissens von der Antike bis in die Frühe Neuzeit gibt.

Zu Recht betont Jerratsch, dass die volkssprachigen Flugschriften keineswegs anspruchsloser "Massenlesestoff der unteren Schichten" (25) sind, sondern auf eine breite (und variable) Rezipierbarkeit zielen, diverse Wissensformen und -ebenen präsentieren und so als Brücke zwischen Fachgelehrten und lesekundigen Laien und damit auch als Drehscheibe für neue, naturkundliche Erkenntnisse dienen können. Diese epistemische Wertigkeit empfiehlt die Texte geradezu für eine systematische wissensgeschichtliche Studie wie die vorliegende. Die Kometenforschung hat diese Bedeutung der Flugschriften durchaus erkannt und in Ansätzen auch analytisch herauspräpariert. Insofern überzeugt es nicht ganz, wenn die Autorin ihre Konzentration auf die deutschsprachigen Drucke u.a. mit der Notwendigkeit begründet, eine Forschungslücke schließen und dadurch auch die Studien zu den Kometen von 1577/78 und 1618/19 ergänzen zu müssen, deren Fokus auf den lateinischen Texten liege. Zum Teil wurden hier bereits umfänglich (wenn auch in zeitlich engerer Perspektivierung) deutschsprachige Flugschriften verhandelt, deren Analyse exakt auf das Anliegen der Autorin abzielte, "generelle Prozesse der Wissensentwicklung, -ausgestaltung, -konsolidierung und -modifikation jenseits der Diskurse der Fachgelehrten oder 'Spitzenautoren'" (30) freizulegen. [1]

Wissen(schaft)shistorisch bestens ausgewiesen skizziert Jerratsch ihre methodischen Grundlagen und Zugänge zum Thema (z.B. Bedeutung von Kometen als 'challenging objects', Bedingtheiten von Wissen und Wissenswandel, Rolle mentaler Modelle, Kometenwissen als 'shared knowledge'). Dabei entscheidet sie sich - und dies überrascht -, den Diskursbegriff nicht im Sinne etwa der historischen Diskursanalyse nutzbar zu machen, sondern ihn "in seiner allgemeinen sprachwissenschaftlichen Definition als verbale oder textuelle Erörterung eines Themas" (18) zu gebrauchen. Detailliert und klar zeigt sie im Anschluss die Entwicklungslinien des Kometenwissens und der "Kontextgebiete" (21) Naturkunde, Astrologie und Theologie auf, welche phasenweise eng ineinanderwirkend die Konzeptualisierung und Interpretation von Kometen steuern. Sie benennt dieses "integrierte Kometenbild" (116) dann auch als (zunächst) leitendes Paradigma der frühneuzeitlichen Kometenliteratur.

Es folgt der analytische Hauptteil der Arbeit, der in drei Großkapiteln rekonstruiert, wie sich das Kometenwissen in der Zeit zwischen 1531 und 1682 gestaltete. In synchronen Schnitten nimmt Jerratsch die Kometen in den Blick, welche die intensivste zeitgenössische Druckrezeption erfuhren: Die Kometen von 1531 und 1532 sowie von 1556 und 1558 (117-178), die Erscheinungen von 1577/78 (179-320) sowie von 1618/19, 1664/65 und 1680/81 (321-490). Auf sie entfallen rund 630 deutschsprachige Schriften, von denen etwa die Hälfte näher untersucht wurde (43).

Wie souverän Jerratsch über ihren Forschungsgegenstand verfügt, zeigt sich in der klug getroffenen, facettenreichen Auswahl von Flugschriften diverser Autoren, die sie ausgewogen und unter Berücksichtigung intermedialer Aspekte analysiert. So gelingt es hervorragend, die Mehrdimensionalität der Drucke, ihre Leistungsfähigkeit in der Trias Beschreibung - Erklärung - Deutung und in deren kommunikativer Vermittlung an diverse Rezipientengruppen aufzuzeigen. Deutlich werden dabei die zunächst noch sehr starken Synergien naturkundlicher, astrologischer und theologischer Zugänge, die mit Hilfe der 'Belegfunktion' historischer Evidenz argumentativ gestützt werden. Zu den einzelnen Kometenjahren entstehen dadurch plastische Wissenslandschaften, die den Einfluss und das Ineinanderwirken von Traditionen, von zeitgenössischen Entwicklungen, von neuen Paradigmen und sozialen Faktoren offenbaren sowie die Pluralität der Wissensbestände und ihre stete Aushandlung durch verschiedene Akteure konturieren. Die Ergebnisse werden in Zwischenfazits gesammelt und interpretiert. Die Autorin stellt hierbei (auch mediale) Verschiebungen fest, die in den 1680er Jahren, so die These, in eine Dissolution des "integrierten Kometenbildes" münden, worauf - nach einem letzten peak - auch das Ende der Kometenflugschriften folgt.

In einem Gesamtfazit (491-529, mit Tabellen) analysiert Jerratsch diesen Befund und betont die Komplexität seiner Genese, die eben nicht als Ergebnis einer linearen Fortschrittsgeschichte, eines Verdrängens des 'Alten' allein durch neue Erkenntnisse, des 'Irrationalen' durch das Rationale erklärt werden kann. Vielmehr kommen hier, wie sie zeigt, Segmentierungen auf disziplinärer, inhaltlicher wie sozialer Ebene zum Zug, die etwa zu einer sukzessiven Marginalisierung der Astrologie seit Mitte des 17. Jahrhunderts führen. Auch eliminiert die zunehmende, empirisch geleitete Naturalisierung der Kometen und schließlich ihre Erklärung als Himmelskörper mit berechenbaren Bahnen die theologische Dimension (vorerst) nicht, sondern beteiligt sich an deren Transformation (von einer moral- zu einer naturtheologischen Ausrichtung). Zurecht verweist Jerratsch bezüglich des Kometenwissens auf eine konstitutive "Ambivalenz von kumulativer Weiterentwicklung und Diskontinuität" (495) und die Langlebigkeit kognitiver Strukturen, welche für die gedehnten Phasen der Wissensablösung mit verantwortlich zeichnen. Eine Bibliographie (530-583) schließt die Studie ab.

Die Autorin beeindruckt durch ihre differenzierte Syntheseleistung ebenso wie durch ihre hohe text- und bildanalytische Kompetenz (ikonographisch allenfalls diskutabel: 128, 146). [2] Ihr Fokus liegt zwar auf den deutschsprachigen Texten, doch wird der gelehrt-lateinische Kontext als Referenzpunkt in Rückgriff auf die einschlägige Forschung stets mit einbezogen. Nicht ganz überzeugen kann die Arbeit mit den lateinischen Passagen in Peter Crügers "Uranodromus cometicus" (368-370; diskutabel auch 348-352, 367). [3] Morphologische Unstimmigkeiten begegnen bei der Verwendung lateinischer Begriffe (z.B. 63, 66, 144f., 178, 249), auch finden sich bisweilen Fehler in den Werktiteln (insb. 539f.); etwas irritierend ist die vereinzelte Wiedergabe von Primärzitaten in englischer Übersetzung (z.B. 86, 427).

Von diesen kleinen Monenda abgesehen gelingt es der fächerübergreifenden Studie in beeindruckender Weise, die Kenntnis und das Verständnis der frühneuzeitlichen Kometenliteratur, ihrer Funktionen und Dynamiken zu befördern und dabei paradigmatisch die komplexe Verflechtung von Faktoren aufzuzeigen, die zu Prozessen der Wissens(trans)formierung führen. [4]


Anmerkungen:

[1] Jerratsch konstatiert, dass sowohl in Tabitta van Nouhuys' Studie (The Age of Two-Faced Janus. The Comets of 1577 and 1618 and the Decline of the Aristotelian World View in the Netherlands, Leiden 1998) als auch in meiner Monographie zum Kometenjahr 1618 (Wiesbaden 2006) "hauptsächlich lateinische Schriften und damit primär die Kometenbilder des gelehrten Diskurses" (30) untersucht werden. Letztere ist von ähnlichen Erkenntnisinteressen wie Jerratsch's Dissertation geleitet und untersucht das gesamte Spektrum zeitgenössischer Kometenliteratur, darunter insbesondere (auf rund 200 Seiten) deutschsprachige Flugschriften - in Dialog mit den lateinischen Texten.

[2] Zur Text-Titelbild-Relation von Johannes Schöners "Coniectur" und der Analyse des Holzschnittes s. neu Marion Gindhart: Was cometen eygentlich seyen. Ways of Imparting Knowledge about the Nature of Comets in Early Modern Ephemeral Literature, in: Genealogy of Popular Science. From Ancient Ecphrasis to Virtual Reality, hg. von Jesús Muñoz Morcillo / Caroline Y. Robertson-von Trotha, Bielefeld 2020, 285-314, hier 296f.

[3] Ebd. 305-311 zu Peter Crüger, zur Disputation unter dem Vorsitz von Bartholomäus Keckermann und der späteren Positionierung zu seinem Danziger Lehrer, zu seinen Kometenschriften und den von Georg Baumann herausgegebenen "Cupediae astrosophicae".

[4] Ebenfalls 2020 erschien Doris Grubers Studie "Frühneuzeitlicher Wissenswandel. Kometenerscheinungen in der Druckpublizistik des Heiligen Römischen Reiches", die bis in das 18. Jahrhundert ausgreift und eine annotierte Gesamtbibliographie der Drucke zu den von ihr behandelten Kometen von 1577/78, 1680/81 und 1743/44 enthält. Sie ist stärker mediengeschichtlich orientiert (vgl. etwa 59-110 zur Materialität der Druckpublizistik), kann aber für das 16. und 17. Jahrhundert nur mit Einschränkungen überzeugen; dazu JHA 51.4 (2020), 490-492.

Marion Gindhart