Rezension über:

Sven Petersen: Die belagerte Stadt. Alltag und Gewalt im Österreichischen Erbfolgekrieg (= Krieg und Konflikt; Bd. 6), Frankfurt/M.: Campus 2019, 488 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51037-8, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Leonard Dorn
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Leonard Dorn: Rezension von: Sven Petersen: Die belagerte Stadt. Alltag und Gewalt im Österreichischen Erbfolgekrieg, Frankfurt/M.: Campus 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/33870.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sven Petersen: Die belagerte Stadt

Textgröße: A A A

Der Kampf um verschiedenste Arten befestigter Orte war "eine der zentralen militärischen Konfrontationsformen in den Kriegen der Frühen Neuzeit" (12). Sven Petersen argumentiert in seiner Dissertation gegen die häufig unkritisch von der Forschung übernommenen 'Handwerksthese' des preußischen Königs Friedrich II. Dieser bewertete die Belagerungen seiner Zeit retrospektiv als gleichförmige, wiederholbare Handlungen (14). Petersen verweist zu Recht darauf, dass der Ausdruck 'Belagerung' sprachlich die Wiederholung des Immergleichen versicherte, obwohl es sich um kontingente, komplexe und sehr unterschiedliche Einzelereignisse handelte. Nun aber gelte es, die "Black-Box" Belagerung zu öffnen (40).

Die kulturgeschichtliche Perspektive und das 'unboxing' der Belagerungen erlauben erhellende Einsichten in ein Themenfeld, das bisher überwiegend Gegenstand der militärischen Operationsgeschichte und der Festungsforschung im Sinne einer Wissens-, Technik- und Baugeschichte war. Einleuchtend ist der zeitliche Fokus auf den Österreichische Erbfolgekrieg, zumal dieser schon im 18. Jahrhundert im historiographischen Schatten des Siebenjährigen Krieges stand.

Petersen fragt nach Handlungen, Mustern, Akteuren, Materialitäten und Erfahrungen (19). Die Quellenrecherche zielt auf Multiperspektivität ab. Quellengrundlage sind gedruckte und als Manuskript vorliegende Belagerungsjournale, Tagebücher, Briefe, Flugblätter, Belagerungsrelationen, Bilder und Karten, die im relativ abstrakt gehalten Quellenkapitel kritisch eingeordnet werden (41-46). Dabei wäre eine etwas konkretere Übersicht und Darlegung der Quellenauswahl und ein stärkerer Bezug auf die Fallbeispiele eine sinnvolle Ergänzung gewesen. Die Auswahl der Fallstudien Prag, Freiburg im Breisgau, Louisbourg, Bergen op Zoom und Pondicherry ist sehr reflektiert und deckt räumlich drei Kontinente, zeitlich den gesamten Kriegsverlauf und inhaltlich zentrale Themenfelder der "Kultur der Belagerung" ab (47).

Anhand der drei Belagerungen von Prag werden mehrmalige Besitzwechsel einer Festungsstadt, die Einbindung von Bürgern und Studenten in die Landesdefension und ihre Handlungsmacht, die Zusammenarbeit mit den Besatzern sowie Hunger, Kunstraub und Pogrome untersucht. Die Analyse der Belagerung von Freiburg im Breisgau ermöglicht es Petersen vorbereitende Rituale wie etwa das Rasieren des Umlandes und die Flucht der Bevölkerung aus der Stadt zu analysieren. Desweiteren arbeitet er "Verausgabung", also die Abfolge von Aktion und Reaktion bis zur "vollständige[n] Erschöpfung der militärischen Ressourcen einer der beiden Parteien" (185), als zentralen Aspekt und "Ideal der frühneuzeitlichen Belagerung" heraus. Die persönliche Anwesenheit des französischen Königs Ludwig XV. führte bei den Kapitulationsverhandlungen außerdem zu einer besonders stark ausgeprägten Konkurrenz zwischen ständischen und militärischen Normen. Der Kampf um die Festungsstadt Louisbourg dient als Beispiel dafür, wie aus europäischer Perspektive die vormalige koloniale Peripherie mit dem Österreichischen Erbfolgekrieg an Bedeutung gewann. Petersen arbeitet außerdem anhand der amphibischen Operation heraus, wie verschiedene Formen des Mangels im kolonialen Kontext die Belagerung veränderten. Bergen op Zoom ist besonders durch die als grenzwertig empfundene Gewalt und deren mediale Verarbeitung aufschlussreich. Das abschließende Kapitel zu Pondicherry rundet die Analyse durch den Fokus auf die Verflechtungsprozesse zwischen Europa und Indien ab, wo die Europäer nicht als tonangebende Mächte auftreten konnten.

Die vielschichtigen Ergebnisse lassen sich nicht so leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Unter anderem werden - auf den ersten Blick beim Thema vielleicht nicht naheliegend -Handlungsspielräume von Frauen in kolonialen Kontexten in den Blick genommen (400-405). Im Fazit benennt Petersen anhand der Fallbeispiele daher zehn "verbindende Muster" als kennzeichnend für die "Kulturen der Belagerung" (413). Europäische Mächte übertrugen die Praktik Belagerung zunehmend in die Kolonien, wobei dies aufgrund lokaler Gegebenheiten und militärischer Kulturen vor Ort mit Friktionen verbunden war. Außerdem korrigiert er die Annahme, dass erst mit dem Siebenjährigen Krieg eine zunehmende Verflechtung der Konfliktschauplätze Europa, Indien und Nordamerika zu beobachten sei. Unter dem Stichwort "Phänomenologie" charakterisiert Petersen Belagerungen als verschiedenartige Kompositionen. Gemeinsam sei den Belagerungen hingegen eine Logik der Verausgabung. Petersen verdeutlicht außerdem, dass die Steigerung von Belagerungspraktiken (Beschuss, Mienen) als Gradmesser für Zuversicht, Pessimismus oder Ressourcenmangel im Kriegsverlauf gelesen werden konnten.

Im Hinblick auf den Entscheidungscharakter von Belagerungen betont der Autor, dass nicht nur klassische operationsgeschichtliche Faktoren zu berücksichtigen seien; zeitgenössische Bewertungen des Entscheidungscharakters von Eroberungen mussten nicht unbedingt den tatsächlichen historischen Auswirkungen entsprechen. Im Folgenden geht er mit "Gewalt militärischen Kämpfens", "Gewalt in der Stadt", "Gewalt gegen die Stadt" und "Grenzen der Gewalt" auf vier verbindende Gewaltebenen von Belagerungen ein (421-424) und plädiert für eine dynamische Einteilung der Akteure in Leidtragende und Profiteure. Im Hinblick auf das lokale Erinnern der Belagerungen fällt auf, dass das bloße Vorhandensein von Befestigungen eine "Wiederholungsgefahr" möglich erscheinen ließ. Manche Belagerungen wurden als drastische Zäsuren erinnert, wohingegen andere als weiterer Bestandteil einer langen städtischen Kriegsgeschichte erschienen.

Die Stärke der Studie liegt in der umfassenden Perspektive auf Belagerungen als zentrales Phänomen des Österreichischen Erbfolgekrieges und zeigt dessen Vielschichtigkeit auf. Durch die Vorgehensweise wird das Thema ausgezeichnet in den Kontext der Epoche eingebettet, was es allgemein für die Frühneuzeitforschung relevant macht. Dabei hätte der Studie insgesamt ein gründlicheres Lektorat gutgetan; so enthalten Text, Anhang, Quellenverzeichnis und Register viele Flüchtigkeitsfehler, und in einigen Fällen sind französische Quellenpassagen durch Tippfehler und Auslassungen nicht mehr ganz verständlich (224, Anm. 147). Das ändert nichts am generellen Befund, dass sich die Arbeit konzeptionell und analytisch auf einem hohen Niveau bewegt und viele spannende Einsichten zum Thema Alltag und Gewalt im Österreichischen Erbfolgekrieg enthält. Das Thema 'Belagerung' erfreut sich derzeit einer kleinen Konjunktur: Petersens Studie ist im Hinblick auf die Operationalisierbarkeit des theoretischen Konzepts als eine der gewinnbringendsten Arbeiten der letzten Zeit zu betrachten. [1]


Anmerkung:

[1] Paul Vo-Ha: Rendre les armes. Le sort des vaincus XVIe-XVIIe siècles (= Époques), Ceyzérieu 2017; Anke Fischer-Kattner/James Ostwald (Hgg.): The World of the Siege: Representations of Early Modern Positional Warfare (= History of Warfare; Bd. 126), Leiden / Boston 2019; Michel Thévenin: Changer le système de la guerre: le siège en Nouvelle-France, 1755-1760, Québec 2020.

Leonard Dorn