Rezension über:

Benjamin Zachariah / Lutz Raphael / Brigitta Bernet (eds.): What's Left of Marxism. Historiography and the Possibilities of Thinking with Marxian Themes and Concepts (= The Politics of Historical Thinking; Vol. 2), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, X + 341 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-11-067762-1, EUR 77,95
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Benjamin Zachariah / Lutz Raphael / Brigitta Bernet (eds.): What's Left of Marxism. Historiography and the Possibilities of Thinking with Marxian Themes and Concepts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/35037.html


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Benjamin Zachariah / Lutz Raphael / Brigitta Bernet (eds.): What's Left of Marxism

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Marxismus? Ja richtig, da war ja mal was. Nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus schien sich auch der Marxismus in all seinen Spielarten von der Bühne zu verabschieden. In der Bundesrepublik war die Beschäftigung mit ihm ohnehin schon lange vor 1989/90 verpönt. Als Frontstaat im Kalten Krieg war die ideologische Differenz und Abgrenzung zum Kommunismus besonders ausgeprägt. In der geschichtswissenschaftlichen Diskussion spielte Karl Marx nach 1990 im besten Fall die Rolle des belächelten Schmuddelkinds, mit dem zu spielen sich nicht gezieme. Hatte und vor allem hat diese Marginalisierung ihre Berechtigung jenseits politischer Imperative? Haben die Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels eventuell gar eine Bedeutung für die heutige Geschichtswissenschaft?

Diesen grundlegenden Fragen geht der von Benjamin Zachariah, Lutz Raphael und Brigitta Bernet herausgegebene Sammelband What's Left of Marxism? nach. Er stellt das Resultat eines Workshops an der Universität Trier 2018 dar, also im Jahr des 200. Geburtstags von Karl Marx in seiner Geburtsstadt.

In der Einleitung stecken die Herausgeberin und die Herausgeber den Rahmen ihres Erkenntnisinteresses ab. Während der Marxismus in der Geschichtsschreibung jahrzehntelang auf dem Rückzug war, gelte es jetzt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erneut nach seinem produktiven Potenzial zu fragen. Überwintert hätte die Beschäftigung mit den Marxschen Ideen, wenn überhaupt, in den postkolonialen Studien oder den women studies. Dieses Nischendasein bedeute letztlich, dass nur spezifische Teile der äußerst breiten und vielfältigen Gedankenwelt marxistischer Intellektueller zur Kenntnis genommen wurden. Es gelte zu prüfen, ob das marxistische Denken nicht für die Geschichtswissenschaft produktive Anstöße, also Aufschlüsse über historische Entwicklungen bieten könne. Hierzu müsse es sowohl rehistorisiert als auch repolitisiert werden. Dieser Anspruch bedeute gerade nicht, die Marxschen Werke exegetisch zu lesen, sondern die Prämissen und Kategorien kritisch auf ihren Erkenntnisgehalt hin abzuklopfen. So verspreche beispielsweise die Dynamik in den Veränderungen zwischen der Produktionsweise, den Produktionsverhältnissen und dem Verhältnis der Lohnabhängigen zu ihrer Arbeit nachzuverfolgen, vertiefte sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einsichten. Der Band beabsichtigte keineswegs, die Debatten zwischen einer Marxschen Orthodoxie und dem westlichen Marxismus wiederzubeleben oder vergangene Auseinandersetzungen erneut zu führen. Vielmehr gehe es um eine kritische Reflexion der Potenziale der marxistischen Ideen. Um diese Möglichkeit zu eruieren, behandelt der Sammelband in vier Teilen ein recht diverses Themenspektrum unterschiedlicher Länder und Epochen.

Im ersten Teil fragt Jakob Tanner metaphorisch, ob wieder Asche aus dem stillen Vulkan des Marxismus aufsteige. Gerade die strukturelle Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems, die auf Ausbeutung beruhenden globalen Verwertungsketten sowie die sich verschärfenden ökologischen Probleme lägen eine erneute Beschäftigung mit Marx nahe. Tanner wendet sich deutlich gegen das häufige Missverständnis, das Freiheit und Gleichheit ein Gegensatzpaar darstellten. Während erstere mit dem Kapitalismus assoziiert werde, verfolge gängigen Behauptungen zufolge der Sozialismus in der Tradition der Französischen Revolution das Gleichheitspostulat. Diese Kontrastierung sei falsch. Faktisch, so Tanner, spiele die Kategorie der Freiheit eine zentrale Rolle im Marxschen Denken, schließlich betrachte er die Freiheit des Einzelnen als Prämisse für die Freiheit aller. Unbestreitbar habe Marx aber keine ausgefeilte Theorie der Demokratie entwickelt. Diese Defizienz habe eine Übernahme des Marxismus durch autoritäre oder diktatorische Bewegungen erleichtert. Ohne Marxist zu sein, habe Thomas Piketty in seinen Werken jüngst die Frage aufgeworfen, wie die Demokratie langfristig wieder die Kontrolle über den Kapitalismus gewinnen könne. Folglich sei der Rauch über dem Vulkan wieder etwas sichtbarer geworden.

Brigitta Bernet rekonstruiert, wie sich kommunistische Intellektuelle im Nachkriegsitalien von der dogmatischen Geschichtsschreibung ab- und der Mikrogeschichte zuwandten. Hierbei kam der Theorie von Antonio Gramsci eine Schlüsselrolle zu. Dessen Einfluss auf den indischen Marxismus wiederum diskutiert Benjamin Zachariah. Angesichts der aktuellen neofaschistischen Bedrohungen in Indien und anderswo sei es lohnenswert, sich wieder in einer kritischen Perspektive mit Gramscis Werk und damit den Fragen der kulturellen Hegemonie zu befassen. Kavita Philip plädiert in ihrem Beitrag für eine materialistische Theorie der Naturwissenschaften. Bislang spielten hierbei vor allem die Werke von Friedrich Engels eine Rolle, aber auch Karl Marx habe sich intensiv mit den naturwissenschaftlichen Debatten und Erkenntnissen seiner Zeit auseinandergesetzt. Eine Re-Lektüre der Schriften von Marx und Engels in dieser Hinsicht und eine darauf aufbauende materialistische Theorie erlaubten, die Systeme der Rationalität zu historisieren und an die Produktions- und Machtverhältnisse zurückzubinden. Gerade diese Rückbindung ermögliche es, die gegenwärtige Entwicklung der Wissenschaft und der Technologie besser zu verstehen.

Im zweiten Teil des Bandes diskutiert Mohammed Maraqten die anhaltende Bedeutung marxistischer Kategorien für das Gesellschaftssystem der frühen Hochkulturen auf der arabischen Halbinsel. Die Herausbildung staatlicher Strukturen, die Eigentumsverhältnisse und die Transformation der Ackerbaugesellschaft untersuchten vor allem marxistische Historiker, oftmals aus sozialistischen Ländern. Deren Interpretationen entfalten bis heute einen nachhaltigen Einfluss. Armar Baadj zeigt anhand des ägyptischen Historikers, Mahmud Isma'il, die Bedeutung marxistischer Positionen für die Geschichtsschreibung über die Epoche des klassischen Islam vom 6. bis zum 16. Jahrhundert. Im folgenden Teil behandeln die Autoren (Nasser Mohajer, Kaveh Yazdani und Jorge Grespan) den Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, einerseits anhand der Kategorie der "ursprünglichen Akkumulation" (Marx) und andererseits am Beispiel der Sklaverei in Brasilien.

In letzten Teil plädiert Lutz Raphael dafür, das starre Schema marxistischer Klassenanalyse aufzugeben, um die Komplexität der heutigen gesellschaftlichen Strukturen in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu verstehen. Er fordert eine weitere Differenzierung ein, um die Veränderungen der sozialen Beziehungen im 20. Jahrhundert kategorial fassen zu können. Dafür müsse der Schematismus des orthodoxen Marxismus über Bord geworfen werden, ohne den Marxismus selbst zu entsorgen. Abschließend diskutieren Matthias Middell die Bedeutung von Karl Marx für eine Globalgeschichte und Preben Kaarsholm die Wichtigkeit marxistischer Kategorien für die Geschichte der Globalisierung.

Der Sammelband bietet einen neuen Zugang zum Marxschen Denken und zeigt seine Bedeutung für die Geschichtsschreibung. Dabei macht er deutlich, dass dieser Anspruch nur in einer kritischen Art und Weise und teilweise in strikter Abgrenzung zu bisherigen Interpretationen erfolgen kann. Damit lotet der Band ein Erkenntnispotenzial für die Geschichtswissenschaften aus, das lange Zeit brachlag.

Die starke Heterogenität der Beiträge lässt bisweilen einen roten Faden vermissen, wie es bei Konferenzsammelbänden bekanntermaßen eher die Regel als die Ausnahme ist. Jedoch ist dieses Manko hier weniger schmerzlich, da es gerade nicht darum geht, eine neue, in sich kohärente Theorie zu formulieren. Es geht stattdessen darum, ein ideologisch verbrämtes Denkgebäude neu zu erschließen. Dafür muss es zunächst von seinem historischen Ballast befreit werden, um sich ihm dann tentativ und kritisch wieder anzunähern. Der Weg dazu ist noch sehr lang und steinig, aber der Sammelband stellt hierfür einen wichtigen Schritt dar.

Sebastian Voigt