Rezension über:

Maciej Górny: Vaterlandszeichner. Geografen und Grenzen im Zwischenkriegseuropa. Aus dem Polnischen von Dorothea Traupe (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 39), Osnabrück: fibre Verlag 2019, 304 S., ISBN 978-3-944870-68-7, EUR 48,00
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Rezension von:
Benjamin Conrad
Humboldt-Universität zu Berlin
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Benjamin Conrad: Rezension von: Maciej Górny: Vaterlandszeichner. Geografen und Grenzen im Zwischenkriegseuropa. Aus dem Polnischen von Dorothea Traupe, Osnabrück: fibre Verlag 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/34781.html


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Maciej Górny: Vaterlandszeichner

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Mit dem Wirken ausgewählter osteuropäischer Geografen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich die transnationale Längsschnittstudie "Vaterlandszeichner" des polnische Historikers Maciej Górny, die nun auf Deutsch erschienen ist. Wiederkehrende Akteure in dem 2017 erstmals auf Polnisch publizierten Werk [1] sind der Serbe Jovan Cvijić (1865-1927), der Pole Eugeniusz Romer (1871-1954) und der Ukrainer Stepan Rudnyc'kyj (1877-1937) - allesamt Schüler der "Wiener Schule" Albrecht Pencks (1858-1945).

Am Beispiel der Kontroverse zwischen Romer und Rudnyc'kyj über die Vergletscherungseinflüsse am Fluss Dnister zeigt Górny auf, dass die untersuchten Geografen teilweise bereits vor 1914 "nationale" Streitigkeiten unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Kontroverse ausfochten. In der Folgezeit nahmen diese Auseinandersetzungen dann jedoch bisher nicht gekannte Formen an. Daher stellt der Autor zu Recht den Ersten Weltkrieg und die Zeit unmittelbar danach ins Zentrum seiner Untersuchung. Durch den Krieg entstanden für die Geografen aller am Konflikt beteiligten Staaten neue Betätigungsfelder: Expansionsräume wurden von ihnen vorgedacht und beschrieben. Im Geiste wurden Nachkriegsordnungen geschaffen, bei denen auf Karten ganze Staaten ausgelöscht wurden. Dies alles geschah auf Kosten der wissenschaftlichen Neutralität: Górny weist überzeugend nach, in welchem Ausmaß sich - mal offen, mal verschleiert - politisch-territoriale Ansprüche in Karten manifestierten, bei denen stets die eigene Nation besser wegkam, andere jedoch schlechter gestellt wurden.

Während der Pariser Friedenskonferenz wechselten einige Geografen wie Cvijić und Romer in die Sphäre der Politik und gehörten den Delegationen ihrer Länder als Experten an. Górny zeigt klar das Spannungsfeld zwischen Politik, Diplomatie und Wissenschaft auf, in dem sich die Akteure befanden. Auch nimmt die Studie differenziert zu der Frage Stellung, wie einflussreich die Geografen bei den Friedensverhandlungen waren: Einerseits hatte ihr Fach 1919 eine Bedeutung wie nie zuvor erlangt - waren doch die politischen Entscheidungsträger auf detaillierte Karten angewiesen, die gegebenenfalls schnell hergestellt werden mussten -, andererseits blieben die Professoren gleichwohl Zaungäste der Großen Politik, da die Staatsmänner die Entscheidungen über Grenzziehungen trotz mitunter erschreckend geringer Kenntnisse Ostmitteleuropas unter sich trafen. Mit diesem Ergebnis bestätigt Górny die in der Forschung bereits vorherrschende Einschätzung, validiert und erweitert diese jedoch um zahlreiche neue Beispiele.

In seiner Studie geht Górny auch auf die in der deutschen Historiografie bereits vielfach behandelte "Spett'sche Nationalitätenkarte" ein. Diese wurde in der Zwischenkriegszeit für die aus deutscher Sicht ungünstige Ziehung der Ostgrenze zu Polen von 1919 verantwortlich gemacht und als Fälschung betrachtet, die auf Betreiben des Polnischen Nationalkomitees hergestellt worden sei. Dass besagte Karte Jakob Spetts keine Fälschung zur Manipulation der Westalliierten war, ist, wie Górny auch herausstellt, in der Forschung längst Mehrheitsmeinung. Trotz der ansonsten großen Gründlichkeit Górnys haben sich rund um seine Darstellung der Spett-Karte Fehler eingeschlichen: So differenziert der Autor beispielsweise nicht zwischen der Volksschulstatistik Preußens und der Volkszählung des Deutschen Reichs. Bei diesen handelte es sich um zwei verschiedene Erhebungen, die in Bezug auf die Erfassung der Sprachen zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Würde die Karte Spetts tatsächlich auf der Volksschulstatistik basieren - was nicht stimmt, von Górny allerdings behauptet wird (161) - wäre die Karte grob irreführend. Des Weiteren nennt der Autor den Rezensenten als Exponenten einer Sichtweise, nach der - wie zu Weimarer Zeiten - Spett ein polnischer Agent gewesen sei (164). Allerdings wird in der Dissertation des Rezensenten Jakob Spett als Akteur überhaupt nicht behandelt [2], sondern lediglich auf mögliche Folgewirkungen seiner Karte eingegangen und eine Hypothese aufgestellt, warum die Westalliierten in der Region Marienwerder - nicht etwa in Ermland und Masuren, wie Górny weiter irrtümlich schreibt - einen Volksentscheid trotz des vorhersehbaren pro-deutschen Ergebnisses stattfinden ließen. Mit den Intentionen Spetts setzt sich die Arbeit des Rezensenten indes gar nicht auseinander.

In einem eigenen Kapitel geht Górny auf Karten ein, die - jenseits von Nationalitäten und Sprachen - andere Zugänge zu Osteuropa boten, etwa durch die Eintragung von Flora und Fauna. Aber auch bei diesen per se unpolitischen Gegenständen war das Denken der untersuchten Geografen von möglichen künftigen Staatsgrenzen geprägt. Am deutlichsten wird dies an den Karten von Rudnyc'kyj, dessen Postulat einer eigenständigen ukrainischen kontinentalen Platte geradezu hanebüchen erscheint.

Abschließend thematisiert der Autor internationale und slawische Geografenkongresse, die bis 1934 währende Ausgrenzung insbesondere der deutschsprachigen Geografie von internationalen Kongressen und die weiteren Lebenswege der untersuchten Protagonisten, teils bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Górny schließt sein Buch mit dem bemerkenswerten Fazit, dass sich die Akteure der Subjektivität der Karten der anderen vollständig bewusst gewesen seien und diese wiederholt tadelten, es jedoch an Einsicht in die jeweils eigene Subjektivität hätten fehlen lassen.

Trotz der dargestellten Monita erwartet die Leserschaft insgesamt eine sehr gut gelungene prosopografische Studie zu osteuropäischen Geografen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Sehr gut gewählt sind zudem die vielfältigen Illustrationen. Nachlässigkeiten im Lektorat und uneinheitliche Schreibweisen ("Jagiellonen"/"Jagellonen"), die zum Ende des Werks zunehmen, fallen dagegen kaum ins Gewicht und könnten bei einer zweiten Auflage sicher korrigiert werden.


Anmerkungen:

[1] Maciej Górny: Kreślarze ojczyzn. Geografowie i granice międzywojennej Europy, Warszawa 2017.

[2] Benjamin Conrad: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918-1923, Stuttgart 2014, 132 f.

Benjamin Conrad