Rezension über:

Stefanie Stockhorst: Ars Equitandi. Eine Kulturgeschichte der Reitlehre in der Frühen Neuzeit, Hannover: Wehrhahn Verlag 2020, 368 S., 20 Farbabb., ISBN 978-3-86525-774-1, EUR 34,00
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Rezension von:
Magdalena Bayreuther
Museum Bayerisches Vogtland, Hof
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Magdalena Bayreuther: Rezension von: Stefanie Stockhorst: Ars Equitandi. Eine Kulturgeschichte der Reitlehre in der Frühen Neuzeit, Hannover: Wehrhahn Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 1 [15.01.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/01/34828.html


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Stefanie Stockhorst: Ars Equitandi

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Dass man als Historikerin oder Germanist kein Buch über Quantenphysik, Erderwärmung oder Impfstoffe schreibt, ist irgendwie selbstredend. Dass man als selbige über Pferde publiziert, ohne jemals mit lebendigen Pferden zu tun gehabt zu haben, ist dagegen bedauerlicherweise nicht die Ausnahme. Bisweilen trifft man auf Texte, aus denen klar hervorgeht, dass die Autorin oder der Autor in der Realität ein Pferd von hinten aufzäumen würde. Ihnen fehlt die Praxis eines sehr weiten Kompetenzfeldes, das eben nicht nur aus Verschriftlichung, sondern aus einer jahrtausendealten fruchtbaren Verbindung von Text und Praxis besteht.

Genau mit diesem Umstand beschäftigt sich die 2020 im Wehrhahn-Verlag erschienene Monografie von Stefanie Stockhorst, die an der Universität Potsdam den Lehrstuhl für Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit innehat. Man darf über diese Autorin vorwegnehmen: Entweder hat sie selbst vertieft mit Pferden zu tun oder sie hatte eine sehr kompetente Fachberatung, denn diese Publikation basiert auf einem korrekten Wissensstand aktueller Pferde- und Reitpraxis inklusive gängigem Vokabular - man liest erfreut von der diagonalen Zweibeinstütze beim Rückwärtsrichten (133). Mehr noch: Das Buch nimmt einen equinen Teilbereich in den Fokus, der seit knapp 20 Jahren in der aktiven Reitszene verstärkt rezipiert wird, die sogenannte Reitkunst.

So betitelt Stefanie Stockhorst denn auch ihr Werk "Ars Equitandi". Als Basis dient ein Quellenkorpus von knapp 80 auf Deutsch erschienenen Reitlehren - Originale und Übersetzungen - des 16. bis 18. Jahrhunderts. Grundlegend sind zwei Fragen: Die an heutige Coffee Table Books erinnernde prächtige Ausstattung vieler dieser Bücher macht stutzig. Wurden sie wirklich nur geschrieben, um das Reiten zu lehren? Und wenn nur bedingt zum Reitenlernen geeignet, an wen richteten sie sich dann?

Die Antwort erfolgt mittels eines kulturhistorischen Rundumschlags: Die "kulturelle Semantik des Reitens" (21) wird mit Hilfe von Wissensgeschichte, Soziologie, Rhetorik, Kunsttheorie und Symbolik erforscht. Dazu ist das Buch in sieben Kapitel aufgeteilt. Zwischen Einleitung und Fazit wird zuerst grundlegend auf "Geschichte und Modelle des Genres 'Reitlehre' in der Frühen Neuzeit" eingegangen, bevor die vier anschließenden Kapitel die Bereiche "Reiten als 'Kunst' und 'Wissenschaft'", "Milieustudien", "Haltung und Macht" sowie "Natur als Leitbild" vertiefen. Eine Ausdifferenzierung besonders der vier letztgenannten Kapitel in Unterkapitel wäre zur besseren Strukturierung hilfreich gewesen; so erschließen sich Anordnung und Zweck erst etwas mühsam während des Lesens.

Dafür gibt es einen umfangreichen Anhang mit hippologischem Glossar, Anmerkungsapparat und umfangreichem Literaturverzeichnis der Quellen und Sekundärliteratur, wobei die Reitlehr-Werke als zusätzlicher Service nicht nur mit späteren Ausgaben bzw. Überarbeitungen, sondern auch zum Großteil mit Links zu Digitalisaten versehen sind. Es folgen die Abbildungsnachweise der 20 s/w-Abbildungen und ein hilfreiches Personenregister. Lediglich bei der aufgeführten Sekundärliteratur fehlen zwei erwähnenswerte Publikationen des durchaus überschaubaren Bestands an hippologischen Bibliografien. [1]

Dies dürften aber nur einige wenige Kritikpunkte dieser Publikation sein, die im Einzugsgebiet des derzeit populären 'animal turn' zu sehen ist, des interdisziplinären und internationalen Forschungsfeldes zu Mensch-Tier-Beziehungen, und im deutschen Sprachraum eine Forschungslücke schließt. Bisher gab es bis auf Bertold Schirgs kompilatorisch angelegtes Werk "Die Reitkunst im Spiegel ihrer Meister" keine Überblicksdarstellung zu verschriftlichtem historischem Reitwissen. [2] Es finden sich lediglich Bestandshinweise in hippologischen Bibliografien des 19. und 20. Jahrhunderts sowie vereinzelte Forschungen zu ausgewählten Reitlehren, Autoren, Beständen oder Aspekten. [3]

Nach dem anfänglichen Überblick über bekannte und weniger bekannte Reitlehren widmet sich Stefanie Stockhorst zunächst dem Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft. Im 16. Jahrhundert zur Kunstform aufgewertet, gelang der Reitkunst während des 17. Jahrhunderts der Aufstieg in den zeitgenössischen Literaturkanon. Im 18. Jahrhundert lief sie durch Aufnahme in Enzyklopädien und Überblickswerke in eine nicht mehr adelsexklusive "Demokratisierung des Reit- und Pferdewisssens" (90) und in eine für das 19. Jahrhundert richtungsweisende wissenschaftlich-biomechanische Betrachtung aus. Dementsprechend änderten sich auch Größe und Anzahl der Reitlehren, Autorenherkunft und Lesepublikum, wie in aufschlussreichen Milieustudien herausgearbeitet wird. Die Ergebnisse spiegeln ähnliche gesamteuropäische Trends. [4] Besonders erfreulich ist hierbei die Berücksichtigung von Frauen als Leserinnen und Reiterinnen.

Das Kapitel "Haltung und Macht" beschäftigt sich mit der symbolischen Bedeutung des Pferdes als Herrschaftssymbol im Zusammenhang mit der in der Frühen Neuzeit alles durchdringenden Leitdisziplin der Rhetorik. Durch mythologische, biblische, emblematische und hippotheologische Sinngehalte wird die "Reitkunst als ein Anwendungsbereich der Rhetorik" (181) herausgearbeitet. Verknüpft mit dem Postulat der 'Zierlichkeit' und den Lektionen der Hohen Schule wird das theoretisch-legitimatorische Gedankengebäude hinter den prachtvollen Paraden, Turnieren oder Rossballetten der höfischen Kultur ersichtlich. Eine ebenso kurzweilige Argumentation bietet das letzte Kapitel, in dem das Verhältnis von Natur und Kultur aufgegriffen wird, ebenfalls mit Schwerpunkt auf den rhetorischen Diskursen der Zeit. Es wird etwa erörtert, wie sich die kosmologischen, humoralpathologischen oder naturphilosophischen Denkweisen als Teil des wissenschaftlichen Weltbildes in den Reitlehren niederschlugen (Pferdecharakter nach Fellfarbe (231ff.), Entwicklung einer "Reitmaschine" (239f.)).

Das Fazit von "Ars Equitandi" fällt auf den ersten Blick überraschend, nach Darlegung des Inhalts aber logisch aus: Die Reitlehren der Frühen Neuzeit dienten nicht zum Reiten lehren und lernen. Vielmehr handelt es sich um komprimierte Kulturgeschichte. Sie zeigen, "wie das Reiten 'gedacht' wurde - als Praxisform, aber auch als Kunst, Wissenschaft und Träger von sozialer und ethischer Symbolkraft" (245). Die beachtliche Leistung dieser Publikation liegt darin, dass sie die Reitlehren in den Zusammenhang des literaturtheoretischen Diskurses der Zeit unter Einbeziehung eines bunten Straußes kulturhistorischer Phänomene stellt und daraus einen neuen Blick auf dieses Genre kreiert.

Entstanden ist ein Standardwerk, das einen bisher noch nicht abgedeckten Bereich der Pferdekultur der Frühen Neuzeit interdisziplinär beleuchtet und eine gelungene Verschmelzung geisteswissenschaftlicher und reitpraktischer Wissensaspekte bietet. Die umsichtige Erklärung zeitgenössischer Denk- und Handlungsmuster in Kombination mit Quelltext-Auszügen sowie eine verständliche, klare Sprache machen dieses Buch nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für historisch interessierte Pferdemenschen zu einem - um mit Pinters 1664 erschienenem Werk zu kokettieren - neuen "Pferdt-Schatz".


Anmerkungen:

[1] John B. Podeschi: Books on the Horse and Horsemanship 1400 - 1941, Catalogue, London 1988; Klaus-Peter Mieck / Michael Schütterle: Die hippologischen Drucke und Handschriften von 1583 bis 1905 in Rudolstädter Bibliotheken (= Schriften der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt; Bd. 6), Regensburg 2015.

[2] Bertold Schirg: Die Reitkunst im Spiegel ihrer Meister, 2 Bde., Hildesheim 1987/1992.

[3] Zum Beispiel: Maria Platte: Die 'Maneige Royal' des Antoine de Pluvinel (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 89), Wiesbaden 2000; Alexandra Demberger: Pferdeliteratur und -bibliotheken am Beispiel des Fürstenhauses Thurn und Taxis in Regensburg, in: Hippomanie am Hofe (= Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten; Bd. 22), hg. von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Petersberg 2019, 92-100; Pia F. Cuneo: Visual Aids: Equestrian Iconography and the Training of the Horse, Rider, and Reader, in: The Horse as Cultural Icon. The Real and Symbolic Horse in the Early Modern World, hgg. von Peter Edwards / Karl. A.E. Enenkel / Elspeth Graham, Leiden / Boston 2012, 71-96.

[4] Daniel Roche: Histoire de la culture équestre, XVIe - XIXe siècle. Tome III: Connaissance et passion, Paris 2015, 48-50; 85-88.

Magdalena Bayreuther