Rezension über:

Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020, 456 S., 7 Farb., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3646-9, EUR 34,90
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Rezension von:
Torben Möbius
Universität Bielefeld
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Torben Möbius: Rezension von: Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 12 [15.12.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/12/34611.html


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Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis

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Nicht nur im Alltagsverständnis werden Arbeit und Konsum als zwei getrennte lebensweltliche Sphären betrachtet. Auch in der Geschichtswissenschaft werden Arbeits- und Konsumgesellschaft als zwei zeitlich aufeinanderfolgende Gesellschaftsmodelle aufgefasst. Peter-Paul Bänziger hinterfragt diese Aufteilung in seiner Baseler Habilitationsschrift und plädiert stattdessen für eine "Annäherung" (11) dieser beiden so zentralen Vergesellschaftungsinstanzen der Moderne. Damit möchte er auch die in weiten Teilen säuberlich getrennte Arbeits- und Konsumgeschichte zusammenbringen. Bänziger geht mit Blick auf den deutschsprachigen Raum zwischen den 1840er und den 1940er Jahren der Frage nach, wie sich zwischen Arbeit und Konsum in modernen Gesellschaften ein komplexes Verhältnis entwickelte. Er widmet sich diesem Verhältnis entlang bürgerlicher "Selbstverhältnisse", die er mit Beobachtungen zu Handwerkerinnen und Handwerkern sowie Arbeiterinnen und Arbeitern kontrastiert. Insbesondere diaristische Quellen sollen Aufschluss geben über diese "subjektkulturelle[n] Veränderungen" (13). Die Materialbasis von 110 ausgewerteten Tagebüchern ergänzt Bänziger um weitere Egodokumente wie private Korrespondenzen und populäre zeitgenössische Zeitschriften.

Im Anschluss an seine sehr präzise und anregende Einleitung nähert sich Bänziger seinem Thema in sechs Hauptkapiteln. Im ersten thematisiert er die sozioökonomischen, klassen- und schichtspezifischen Grundlagen der sich anbahnenden Arbeits- und Konsumgesellschaft des 19. Jahrhunderts. Daran anknüpfend zeigt er, wie Bürgerinnen und Bürger sowie Arbeiterinnen und Arbeiter das Wirtschaften deuteten und wie sich dies auf die Arbeitspraktiken auswirkte. Bänziger korrigiert dabei die alte These der Auflösung des "ganzen Hauses", das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in seine Bestandteile aufgelöst habe. Stattdessen zeige sich in den Tagebüchern einer Fabrikantentochter und eines Landpfarrers, dass Arbeit in vielerlei Hinsicht eine "Familienangelegenheit" auch in der bürgerlichen Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft blieb. Während im Bürgertum Ängste vor Auflösungsprozessen gemeinschaftlichen bürgerlichen Lebens durch Geldwirtschaft, Lohnarbeit und einem als sinnenleert empfundenen Konsum zu beobachten waren, kamen Mitglieder der Unterklassen früher mit ökonomischen Praktiken des alltäglichen Bezahlens in Kontakt. Sie etablierten sich folglich früher als selbstständige und selbstbewusste kapitalistische Rechts- und Geldsubjekte und konsumierten im Unterschied zu bürgerlichen Kindern und Jugendlichen schon in jungen Jahren mit selbst verdientem Geld.

Im zweiten und dritten Kapitel stehen die alltagsprägenden Leitvorstellungen der bürgerlichen Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft sowie diejenigen der Unterklassen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Fokus. Das Bürgertum pflegte ein religiös begründetes Ideal der Arbeitsamkeit, das von einem Pflicht- und Gemeinschaftsdenken sowie einem Ethos der Mäßigung gerahmt war. Anders als häufig angenommen spielten Profitstreben und Leistungsdenken auf der Akteursebene eine untergeordnete Rolle. Angehörige des Bürgertums orientierten sich vielmehr am "langfristig gesicherte[n] Auskommen der familiären Wirtschaft" (84). Konsumistische Praktiken waren eingelagert in den bürgerlichen Bildungsbegriff, in Leitvorstellungen von Mäßigung und eines "sinnlichen" Kunst- und Naturgenusses. Amüsement sollte aus Sicht von Bürgerinnen und Bürgern in erster Linie der sozialen Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft dienen. Zwar seien weite Teile der unteren Klassen, etwa Bedienstete sowie Arbeiterinnen und Arbeiter, täglich mit diesem "bürgerlichen Wertehimmel" konfrontiert gewesen. Der Lesart einer "Diffusion des bürgerlichen Arbeitsethos in die unteren Klassen" (135) in den Jahrzehnten um 1900 widerspricht Bänziger jedoch. Er zeigt im dritten Kapitel vielmehr, dass die arbeits- und konsumspezifischen Leitvorstellungen der unteren Klassen stark an Produktion und Arbeitsprodukt orientiert waren, was eher einem konkurrenzbasierten Leistungsdenken entsprach als das bürgerliche Streben nach Mäßigung.

Das vierte Kapitel widmet sich mit "Nation, Betrieb und Familie" zentralen Orientierungs- und Deutungsrahmen im Prozess der Institutionalisierung von Arbeit und Sozialstaat im frühen 20. Jahrhundert. Beeinflusst wurde dies durch gleichzeitig aufkommende neue Konsumangebote und -verheißungen. Bänziger rekonstruiert Genusspraktiken der Unterklassen, die er in Abgrenzung von der üblichen Lesart nicht als Geschichte einer Übernahme bürgerlicher Praktiken beschreibt. Bänziger belegt, dass die unteren Klassen vielmehr als Avantgarde der Konsumgesellschaft gelten können: hier hätten sich weitaus eher als im Bürgertum hedonistische Konsumpraktiken auch im außerfamiliären Bereich herausgebildet, die häufig von romantischer Liebe und Freizeit gerahmt waren. Am Beispiel der Genfer Landesausstellung 1896 und entlang des Industriebetriebs verdeutlicht er an konkreten sozialen Orten, wie moderne arbeitsspezifische und konsumistische Vorstellungen und Praktiken im nationalen Deutungsrahmen etabliert und eingeübt wurden.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Bänziger dem im Titel prominent platzierten Erlebnis-Begriff zu. Konsum und Arbeit betrachteten die Tagebuchschreiberinnen und Tagebuchschreiber durch die Brille der Erlebnisorientierung. Er beobachtet, dass "das Aufkommen konsumorientierter Identitätsangebote" keineswegs auf die "Erosion arbeitsbezogener Werte" folgen musste: Erlebnisorientierung stelle "einen zentralen Modus des Alltagsbezugs in der Arbeits- und Konsumgesellschaft dar" (285 f.) Entlang von Tagebucheinträgen seiner "Diaristinnen und Diaristen" kann er zeigen, dass "Spaß und reger Verkehr" auch am Arbeitsplatz des frühen 20. Jahrhunderts aktiv gesucht wurden. Erlebnisorientierte und bürgerliche Subjektkulturen mischten sich und die Akteurinnen und Akteure betrachteten Arbeit und Freizeit keineswegs als Gegenwelten, sondern dachten Arbeit in einem engen Zusammenhang zur freizeitlichen Zerstreuung. Schließlich untersucht Bänziger im abschließenden sechsten Kapitel das Tagebuchschreiben als zentrale privilegierte Praktik bürgerlicher Selbstthematisierung. Er zeigt, wie sich im Laufe des Untersuchungszeitraums die Schreibpraxis von einer ganzheitlichen Orientierung an der Biographie hin zu einer Erlebnisorientierung entwickelte. Diese Beobachtung stützt die These abermals, wie sehr konsumistische Praktiken von den Subjekten bewusst in ihren Arbeitsalltag integriert wurden. Am Schluss bündelt Bänziger schlüssig seine Ergebnisse. Um 1880 habe sich Arbeit und Konsum "als eng an Marktversorgung gebundene Praktiken" etabliert, die nun zur "allgemeinen Erfahrung" wurden und als Begriffe ihre heutige Bedeutung als Leitdifferenz erhielten (392). Darüber hinaus reflektiert er schließlich weitergehende Perspektiven, etwa für das Verhältnis von Arbeit und Konsum seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Alles in allem gelingt es Bänziger, eine sehr lebendige, problemorientierte und letztlich überzeugende "Geschichte der Annäherung" von Arbeit und Konsum zu schreiben. Darüber hinaus ist die Studie ein wichtiger Beitrag zur Genese von (hauptsächlich bürgerlichen) Subjektkulturen in der klassischen Moderne. Der gewählte Zugriff auf "Selbstverhältnisse" belegt seinen methodischen Mehrwert, auch weil die Analyse stets sensibel auf klassen- und geschlechts-, länder- und regionalspezifische sowie subjektkulturelle Kontexte eingestellt bleibt. Im Laufe der Untersuchung präzisiert oder hinterfragt Bänziger immer wieder vermeintliche Gewissheiten, Leitdifferenzen und Forschungsbegriffe der älteren sozialhistorischen Forschung - hier finden sich einige Anknüpfungspunkte für weitergehende Forschungen. Außerdem bleibt am Ende zu hoffen, dass Bänzigers Schlussplädoyer breite Beachtung findet, nicht nur die Geschichte einzelner wichtiger Begriffe, sondern auch die Geschichte ihrer Gegenüberstellung zu erzählen (393). Tatsächlich kann er für Arbeit und Konsum eindrucksvoll zeigen, dass sich ihre Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert kaum getrennt voneinander erzählen lässt.

Torben Möbius