Rezension über:

Edith Schriefl: Versammlung zum Konsens. Der sächsische Landtag 1946-1952 (= Studien und Schriften zur Geschichte der Sächsischen Landtage; Bd. 7), Ostfildern: Thorbecke 2020, 300 S., ISBN 978-3-7995-8467-8, EUR 45,00
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Rezension von:
Jürgen John
Jena
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen John: Rezension von: Edith Schriefl: Versammlung zum Konsens. Der sächsische Landtag 1946-1952, Ostfildern: Thorbecke 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/34599.html


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Edith Schriefl: Versammlung zum Konsens

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Die Publikation ist aus einer Dissertation im Rahmen des Graduiertenkollegs "Geschichte der Sächsischen Landtage" an der Technischen Universität Dresden hervorgegangen. Sie untersucht erstmals monographisch die beiden 1946 und 1950 gewählten sächsischen Landtage von den ersten Wahlen bis zur Auflösung des Landes und des Landtages 1952. Ihre Fragestellung lautet: Wie arbeitete der sächsische Landtag in dieser Zeit und welchen Ideen folgte seine parlamentarische Praxis?

Von dem Befund ausgehend, dass die Geschichte parlamentarischen Handelns ein deutliches Defizit der SBZ-Forschung darstellt, weil die ostzonalen Nachkriegsparlamente lange Zeit als randständig eingeschätzt und kaum untersucht worden sind, strebt die Verfasserin einen Perspektivenwechsel mit doppeltem Anliegen an, das sie einleitend plausibel darlegt. Erstens wendet sie den Blick von Deutungsmustern ab, die Parlamente in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) als bloße Übergangserscheinung einer "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" (so die DDR-Historiographie) ansahen oder sie - wie seit 1990 gängige Deutungsmuster zielgerichteter "Sowjetisierung" und "Diktaturdurchsetzung" - mit Kategorien des "Scheins", der "Fassade" und der "Täuschung" marginalisieren. Hauptsächlich richtet die Autorin ihren Blick auf die Akteure parlamentarischen Handelns und auf deren Gestaltungsabsichten, Ideen, Leitlinien, Praktiken, Riten, Narrative und Symbole. Dafür ordnet sie den sächsischen Nachkriegs-Landtag zweitens in eine parlamentarismusgeschichtliche Langzeitperspektive ein, aus der sie auch ihr verfahrens- und kultursoziologisch geprägtes methodisches Instrumentarium ableitet. Da im Vierzonen-Deutschland politisches Handeln im Allgemeinen wie parlamentarisches Handeln im Besonderen durchweg unter Besatzungsregime stand, vertritt Schriefl die These, dass das Wirken der Nachkriegsparlamente nur mit den Kategorien eines funktional eingeschränkten Parlamentarismus angemessen erfasst werden kann. Die parlamentarischen Defizite seien zwar zu benennen und zu analysieren; das parlamentarische Handeln könne aber nicht einfach als "Schein", "Fassade" oder "Täuschung" abgetan werden. Als analytisch-begriffliches Instrumentarium bietet Edith Schriefl eine von ihr als "Ökonomie der Offenheiten" bezeichnete Begrifflichkeit an, wonach "politische Versammlungen als soziale Ordnungsarrangements" zu verstehen seien, "die Leitideen vortragen und darin spezifische Geltungsbehauptungen symbolisch zum Ausdruck bringen" (25). Mit diesem Ansatz bringt ihre quellenfundierte Untersuchung zweifellos neue Töne in die SBZ-Forschung ein, die sie von bisherigen Studien zu anderen SBZ-Landesparlamenten [1] unterscheiden - ein Ansatz, der sich wohltuend von Sichtweisen abhebt, die die SBZ-Landtage hauptsächlich "im Würgegriff von Besatzungsmacht und SED" wahrnahmen [2].

Die Untersuchung umfasst drei Kapitel. Das erste Kapitel beschreibt die Vorgeschichte des sächsischen Nachkriegslandtags, die Wahlen am 20. Oktober, seine Konstituierung am 22. November 1946 sowie die Sozial- und Regionalstruktur der Abgeordneten der ersten Wahlperiode. Das zweite Kapitel als Kernkapitel untersucht das "Spannungsfeld von Parlamentskonzepten" unter fünf originellen Begriffen. Relativ knapp widmet sich Schriefl der Tätigkeit der Landtagskanzlei ("Das genügsame Parlament") und den Landtags-Artikeln der Landesverfassung ("Das sichernde Parlament"); ausführlicher dem Verhältnis von Landtag und Besatzungsmacht ("Das demütige Parlament"), und das unter drei Aspekten: Regulierung durch Normative, Präsenz der Besatzungsoffiziere und mündliche Verhandlungskultur, vom Bewusstsein deutscher Schuld geprägte "Mythologisierung und Demut" gegenüber der Besatzungsmacht. Hier wird ein gestaltungsbewusstes parlamentarisches Handeln geschildert, das sich selbstverständlich auf die normativen Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht einstellte, aber eigenen Ideen folgte. Der vierte Abschnitt ("Das überkommene Parlament") befasst sich mit dem Verhältnis der Abgeordneten zum Parlamentarismus der Weimarer Zeit; der fünfte Abschnitt ("Das einheitliche Parlament") mit dem Zusammenhang von Landtag und Blockpolitik. Dieser Abschnitt mit den Kernaussagen der Arbeit beschreibt die "Blockpolitik" als Mythos, kommunikatives Symbol und Handlungsnorm. Die Autorin geht dann auf die Postulate der "Einheitlichkeit" und "Einstimmigkeit" als Ritus und Leitidee parlamentarischen Handelns ein, die im Parteienblock als einem dem Landtag "vorgeschaltetem Gremium" arbeitsteilig entwickelt und ausformuliert worden seien, um dann abschließend den "Dissens als Option" zu erörtern. Anders als in vorangehenden Studien wird der "Blockpolitik" so auch während der Existenz der Landesparlamente ein hoher Stellenwert eingeräumt. Das dritte Kapitel geht schließlich unter dem Titel "Verschiebungen im Spannungsfeld" den 1948/49 durch den "Kalten Krieg", eine modifizierte Besatzungspolitik, den zentralisierenden Ausbau der SBZ, dem Umbau der SED zur stalinistischen Ordnungspartei "neuen Typus", deren gesteigertem Hegemonialanspruch und der Herausbildung zweier deutscher Staaten gründlich veränderten Konstellationen sowie deren Auswirkungen auf die parlamentarische Praxis nach. Es folgen Abschnitte über die Verlängerung der Wahlperiode, die Wahl des zweiten Landtages nach Einheitslisten, dessen veränderte Abgeordnetenstruktur, die Kumulation der "Einheits"-Idee und die Auflösung des Landtages.

Das Hauptmanko der insgesamt gelungenen Studie von Edith Schriefl besteht darin, dass in der Fülle erfragter und analysierter parlamentarischer Praktiken, Riten und Symbole kein Blick mehr für die Inhalte parlamentarischen Handelns im sächsischen Landtag bleibt. Weder werden besonders aufschlussreiche und inhaltlich spannende Plenar- und Ausschuss-Debatten porträtiert noch Gesetzgebungsprozesse inhaltlich analysiert. Der Anhang bietet zwar eine Übersicht über die von den beiden Landtagen 1947 bis 1952 verabschiedeten Gesetze. Doch das einzige Kriterium dieser ansonsten nur Datum und Inhalt der jeweiligen Gesetze ausweisenden Liste ist, ob die Zustimmung einstimmig erfolgte oder ob es Gegenstimmen und Enthaltungen gab. Die Liste soll wohl den Titel "Versammlung zum Konsens" belegen. Denn nur bei wenigen Gesetzen gab es einzelne und nur in Ausnahmefällen eine größere Anzahl von Gegenstimmen.


Anmerkungen:

[1] Christina Trittel: Die Landtagsfraktionen in Sachsen-Anhalt von 1946 bis 1950. Analyse des landespolitischen Handelns und der Handlungsspielräume kollektiver Akteure in der werdenden DDR, Wiesbaden 2006; Michael C. Bienert: Zwischen Opposition und Blockpolitik. Die "bürgerlichen" Parteien und die SED in den Landtagen von Brandenburg und Thüringen (1946-1952) (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 171), Düsseldorf 2016.

[2] Herbert Gottwald: Der Thüringer Landtag 1946-1952. Ein politischer Abriß (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen; Bd. 5), Jena 1994, 37-48.

Jürgen John