Rezension über:

Krista Lynes / Tyler Morgenstern / Ian Alan Paul (eds.): Moving Images. Mediating Migration as Crisis (= Edition Medienwissenschaft; Vol. 64), Bielefeld: transcript 2020, 320 S., ISBN 978-3-8376-4827-0, EUR 40,00
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Rezension von:
Tanja-Bianca Schmidt
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Kerstin Schankweiler
Empfohlene Zitierweise:
Tanja-Bianca Schmidt: Rezension von: Krista Lynes / Tyler Morgenstern / Ian Alan Paul (eds.): Moving Images. Mediating Migration as Crisis, Bielefeld: transcript 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/34471.html


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Krista Lynes / Tyler Morgenstern / Ian Alan Paul (eds.): Moving Images

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Die Rhetorik der Krise, die den Mainstream-Diskurs in Bezug auf die Migrationsbewegungen vom sogenannten globalen Süden gen Europa spätestens seit 2015 dominiert, erweist sich als die treibende Kraft der zunehmend restriktiven Migrationspolitik der europäischen Länder. Die durch spezifische Überwachungs- und Mobilfunktechniken produzierten Bilder aus den Grenzbereichen der EU und ihre Verbreitung über öffentliche wie private Medien und Datennetzwerke bewirken eine Hypervisibilität der (Im)Mobilität unerwünschter Migranten und Migrantinnen [1] und sind im Wesentlichen an der Konstitution einer "Krise der Migration" beteiligt.

Die komplexe visuelle Kultur, die den Mythos der Krise als Wirklichkeit erfahrbar macht, steht im Fokus der englischsprachigen Publikation "Moving Images. Mediating Migration as Crisis". Sie ist das Ergebnis einer mehrjährigen Zusammenarbeit von Theoretikern und Theoretikerinnen, Künstlern und Künstlerinnen, Kuratoren und Kuratorinnen sowie Aktivisten und Aktivistinnen und bündelt medientheoretische, philosophische, soziopolitische, bildwissenschaftliche und künstlerische Perspektiven auf die restriktive Ausrichtung der europäischen Grenzpolitik und ihre Auswirkung auf gegenwärtige Migrationsbewegungen. Titelgebend ist die Bewegung des Bildes, die die Herausgeber und Herausgeberinnen Krista Lynes, Tyler Morgenstern und Ian Alan Paul in sich überlappenden Dimensionen erfassen. In ihrer Auswahl der Beiträge reflektieren sie sowohl die als prekär dargestellte Mobilität von Menschen als auch die durch Datennetzwerke und (Social) Media Plattformen mögliche Dynamisierung des Bildes sowie seine affektive Qualität, die über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg Menschen zu Affektgemeinschaften zusammenführt.

Der gemeinsame Ausgangspunkt der Autoren und Autorinnen sind die prekäre Situation im zentralen Mittelmeer und die weitreichenden migrationspolitischen Veränderungen seit 2015. Anknüpfend an die These, dass Bilder gesellschaftliche, ökonomische und politische Konsequenzen haben [2], ergründen sie vor allem die interessengeleitete Bildproduktion, die im Kontext von Migration und Kontrolle stetig neue Bilder und Bildgenres hervorbringt. Die insgesamt 17 Beiträge sind in zwei Sinneinheiten unterteilt.

Der erste Teil des Buches "Section One. Moving Media" untersucht die in die europäischen Bildpolitiken eingelassene Ikonografie der Krise und die Dynamiken, die aus dieser Mediatisierung von Migration hervorgehen. Entlang konkreter Fallbeispiele zeichnet er die dialektische Beziehung zwischen migrationspolitischen Maßnahmen, wie beispielsweise die Verlagerung der EU Außengrenze, die Vereinbarungen mit Libyen oder die Kriminalisierung von Seenotrettung, der zunehmenden Gefährdung unerwünschter Migranten und Migrantinnen sowie einer steigenden Bilderzeugung nach. Exemplarisch dafür steht der Beitrag "Forensic Oceonography" von Charles Heller und Lorenzo Pezzani (95-125). Ihre forensische Auswertung vielfältiger audio-/visueller Quellmaterialien, die von verschiedenen staatlich legitimierten und zivilen Akteuren und Akteurinnen im zentralen Mittelmeer produziert wurden, weist überzeugend die gewaltvolle, menschenverachtende Dimension der europäischen Grenzregime nach.

Ein wertvoller Befund des ersten Themenschwerpunktes ist, dass die Politik der Krise eng mit Differenzierungspraktiken verwoben ist, die Herrschaftsverhältnisse bestimmen und Machtasymmetrien bekräftigen. Die im Wesentlichen daran beteiligten Bildpolitiken spiegeln ein Selbstverständnis Europas wider, das seine politische Stabilität und ökonomische Stärke durch die zunehmenden Migrationsbewegungen gefährdet sieht. In diesem Kontext führt eine Rhetorik der Krise zu einer Verschärfung der Grenzpolitik, die die Regulation und Kontrolle von Migrationsbewegungen zum Ziel hat. Besonders aufschlussreich ist hier der Aufsatz "Controlling the Crisis" (71-93) des Medienwissenschaftlers Ian Alan Paul. Seine theoretisch anspruchsvolle Analyse der Verwicklungen und Ambivalenzen der dialektischen Verbindung von Krise und Kontrolle anhand der operativen Maßnahmen der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache FRONTEX verdeutlicht nachdrücklich die kybernetische Beherrschung der Bedingungen von Migration und Flucht. Voraussetzung dafür sei das zusammenhängende System aus Überwachungstechnologien, Mobilfunknetzen, Glasfaserleitungen und Rechenzentren, das durch die Speicherung und Weitergabe auswertbarer Daten von delegitimierter Migration, Grenzschutzmaßnahmen im Sinne eines nationalstaatlich definierten Krisenmanagements reguliere.

Der zweite Teil des Buches "Section Two. Mobile Positions" widmet sich den affektiven Dynamiken visueller Narrative, die im Modus des Protests, der Subversion und der Gegenoffensive in verschiedenen öffentlichen und privaten Plattformen zirkulieren. Anknüpfend an Sektion I gelingt es den Herausgebern und Herausgeberinnen durch diese Akzentuierung, die Spannungslinien zwischen der Verstärkung grenzsichernder Maßnahmen seitens der EU und den aktiven Widerstand gegen die europäischen Grenzregime auszuloten. Die Autoren und Autorinnen ergänzen die in unterschiedlichen Medien verbreiteten populären Darstellungen von Migration durch ihre detailreichen und machtkritischen Analysen, die eine veränderte Wahrnehmung von Migration ermöglichen. Besonders eindrücklich wird dies anhand Veronika Zablotskys' Analyse von Refugee Selfies (189-210). Diese beschreibt die Politologin im Kontext von Selbstermächtigung und Sprachmacht als unverzichtbares Bildgenre, das den von staatlicher Seite legitimierten Bildern widerspreche. Die Selbstporträts der Migranten und Migrantinnen durchkreuzten die westliche Vorstellung von Bedürftigkeit, Hilflosigkeit und Passivität, indem sie den generalisierenden, gesichtslosen Luftaufnahmen von Geflüchtetencamps, -caravanen und -booten eine handlungsfähige und selbstbestimmte Person gegenüberstellten. Dadurch zeigten sie eine abweichende Realität, die in eine veränderte Wahrnehmung [3] von Migration und Flucht investiere.

Eine Stärke der Publikation ist ihr Potpourri aus thematisch unterschiedlichen Analysen der staatlich legitimierten sowie der zivilen Bildpolitiken im Kontext von Migration und Flucht. Die bildimmanenten Untersuchungen überzeugen durch ihre hohe Qualität und stellen einen methodisch anspruchsvollen wie vielseitigen Zugang in die (visuelle) Migrationsforschung bereit. Sie werden vielfach durch den Fokus auf Informationstechnologien, Verbreitungswege, Zugangsvoraussetzungen sowie die Frage nach der affektiv-performativen Dimension von Bildoperationen erweitert. Insgesamt unterstreichen die einzelnen Studien die Heterogenität und Ambiguität, die der Politik der Krise anhaften. Es wird deutlich, dass die kybernetische Überwachung der europäischen Grenzbereiche und Transitzonen einen unablässigen Bilder- und Datenstrom erzeugt, der als Folge des europäischen Krisenmanagements zu einer Verschärfung grenzkontrollierender Maßnahmen führt, die migrantische Mobilität zunehmend gefährdet. Gleichzeitig eröffnet die Sichtbarkeit unerwünschter (Im)Mobilität als Folge der steigenden visuellen Bilderzeugung die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der in die Grenzpolitiken eingelassenen Bildoperationen in Frage zu stellen und die ethische Dimension der europäischen Migrationspolitik zu beleuchten.

Besonders wertvoll sind daher die zahlreichen Bildbelege in Form von Quellmaterial und Dokumentationen sowie die Integration aktivistisch-künstlerischer Projekte, die beispielgebend sind für die verschiedenen Formen des Widerstands. Sie unterstreichen den gesellschaftlichen Wert von visuellen Zeugnissen für politische Konflikte und unterstützen den Aufbau eines dezentralen Archivs der Migration. Vor dem Hintergrund, dass eine veränderte Wahrnehmung von Migration eine Revision der eigenen Haltung ermöglicht, ist die Publikation über die bild- und kunstwissenschaftlichen Ergebnisse hinaus von großer sozialer und politischer Relevanz.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Steffen Köhn: Mediating Mobility. Visual Anthropology in the Age of Migration, New York 2016.

[2] Jens Eder / Charlotte Klonk (eds.): Image Operations. Visual Media and Political Conflict, Manchester 2016.

[3] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hgg. von Joachim Küpper / Christoph Menke, Frankfurt 2003, 138-161.

Tanja-Bianca Schmidt