Rezension über:

Loris Sturlese / Markus Vinzent (eds.): Meister Eckhart, The German Works. 64 Homilies for the Liturgical Year. 1. De tempore. Introduction, Translation and Notes (= Eckhart: Texts and Studies; Vol. 9), Leuven: Peeters 2019, XIX + 872 S., ISBN 978-90-429-3608-9, EUR 110,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Loris Sturlese / Markus Vinzent (eds.): Meister Eckhart, The German Works. 64 Homilies for the Liturgical Year. 1. De tempore. Introduction, Translation and Notes, Leuven: Peeters 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/33644.html


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Loris Sturlese / Markus Vinzent (eds.): Meister Eckhart, The German Works

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Der erste öffentliche Auftritt Eckharts ist für das Jahr 1294 dokumentiert. Zu diesem Zeitpunkt machte der an der Universität von Paris lehrende dominikanische lector sententiarum durch eine Osterpredigt (Pascha nostra) von sich reden. [1] Der um 1260 in Hochheim oder in Tambach Geborene hatte vom hochentwickelten Bildungs- und Studiensystems des Dominikanerordens profitiert, in dem intellektuelle Begabungen konsequent aufgespürt und gefördert wurden. Von Paris nach Thüringen: Zurück in seiner Heimat erklomm Eckhart die Karriereleiter innerhalb der dominikanischen Ordensstrukturen. Seine Leistung als Prior des Erfurter Predigerkonvents überzeugte. 1303 wurde ihm die Leitung der Provinz Saxonia übertragen - ein Amt, das er sieben Jahre lang versah. Eckhart gehörte ohne Zweifel zur intellektuellen Ordenselite: dies brachte ihn erneut an die Ufer der Seine, wo er sich drei Jahre lang im vertrauten geistigen Umfeld bewegte. Als Vikar des Ordensgenerals begab er sich 1313 nach Straßburg, wo er sich nicht nur mit der geistlichen Betreuung einiger Frauenkonvente, sondern auch mit der Abfassung eines Großteils seiner deutschsprachigen Predigten beschäftigte. In seinen Predigten ging Eckhart auf das ein, was viele der von ihm betreuten Nonnen umgetrieben haben dürfte: wie waren mystische Erfahrungen mit der offiziellen Kirchenlehre in Einklang zu bringen? Wie fügte sich das, was Eckhart als Diu inwendige geburt gotes an der sêle, als gewar werden Gottes in der menschlichen Seele bezeichnete, in überkommene Lehrgebäude ein?

Wie stark seine geistige Verankerung im elsässischen Raum tatsächlich war, wird in der Forschung noch immer heiß diskutiert, sind die spärlichen Quellenbelege für einen längeren Aufenthalt Eckharts im Elsass doch nur auf den ersten Blick wirklich aussagekräftig. Auf den zweiten Blick stellen sich Fragen, die doch nur eine Schlussfolgerung zulassen: selbst wenn sich Eckhart längere Zeit in Straßburg und Colmar aufgehalten haben sollte, stellt diese Zeit keine dramatische Kehrtwende in seinem Leben dar. Der Wandel vom Universitätsgelehrten zum "Mystiker" vollzog sich in deutlich längeren Etappen.

Eckhart predigte viel und bediente sich dabei sowohl des Lateinischen als auch des Mittelhochdeutschen. Derzeit sind rund 120 dieser volkssprachigen Predigten bekannt. Anders als viele seiner Kollegen an den Universitäten glaubte er nicht, dass komplexe theologische Ausführungen ausschließlich des Lateinischen bedurften. Dies wird zu Recht als "a remarkable breach of an unwritten rule", als "provocative act" (9) gedeutet - derart provokant, dass sich Johannes XXII. gar in seiner Bannbulle darauf bezog. Über 50 Sätze aus den volkssprachigen Predigten sollten zu Beginn des Verfahrens als Beweis von Eckharts Heterodoxie dienen und das gegen ihn angestrengte Häresieverfahren zum Erfolg führen. Noch unter den 17 inkriminierten Sätzen, die bei der Verurteilung schließlich übrigblieben, fanden sich einige aus den deutschen Predigten.

Die 120 volkssprachigen Homilien sind in einer großen Zahl von Handschriften nicht nur als bloße Entwurfsskizzen, sondern als vollständig ausgearbeitete Texte mit literarischem Anspruch überliefert. Anders aber als bei den lateinischen Predigten ist es um die Authentizität der deutschen Sermones nicht sehr gut bestellt - diese Problematik überschattete ihre Rezeption seit der ersten modernen Edition durch Franz Pfeiffer 1857. [2] Erschwerend kommt hinzu, dass diese Predigten nicht en bloc in einer Handschrift überliefert und als Sammlung verbreitet worden sind. Anders ausgedrückt: sie sind als Ganzes oder auch nur fragmentarisch in Hunderten von Codices überliefert bzw. verstreut und erscheinen selten einmal in ein- und derselben Ordnung.

Wie legt man angesichts einer solchen Gemengelage Kriterien fest, um daraus Authentizität abzuleiten? Allergrößte Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem gegen Eckhart 1326 angestrengten Inquisitionsverfahren zu, in dessen Akten sich eine Vielzahl vermeintlich häretischer Aussagen findet, die 16 volkssprachigen Predigten entnommen worden waren. Ausgehend von diesen 16 Predigten - authentisch aufgrund des Inhalts - wurde in der von Josef Quint besorgten Edition der deutschen Werke Eckharts nach inhaltlichen und sprachlichen Bezügen auch in anderen unter seinem Namen überlieferten Predigten gefahndet. [3] Die ursprünglich liturgische Ordnung der so identifizierten Stücke blieb dabei auf der Strecke. Und genau hier greift die vorliegende Edition und Übersetzung beherzt ein: "[...] the present work seeks to offer a radical remedy, re-ordering the homilies of Eckhart according to the liturgical calender of the Church as specified by the Dominicans" (20)

Der vorliegende Band enthält 64 deutschsprachige De tempore-Predigten samt englischer Übersetzung (zwei weitere Bände mit 54 De sanctis-Predigten und den fast 100 lateinischen Homilien sind in Vorbereitung). [4] Lediglich einige wenige Sermones liefern Hinweise auf einen konkreten Predigtort. Was unter einem immer wieder eingestreuten "hier" oder einem "jetzt" verstanden wird, bleibt in den meisten Fällen unklar. Spiegeln die Sermones eine konkrete Predigtsituation wider? In welchem Verhältnis stehen schriftlich fixierte Predigt und (mögliche) Oralität? Einmal mehr gerät hier der "liturgische Ort", die liturgische Einbindung von Eckharts Predigttätigkeit in den Blick. Loris Sturlese hat eine solche Ordnung bereits 2014 in einer italienischen Publikation der Predigten gewählt und sie in die vorliegende Publikation übernommen. Genau diese dem Kirchenjahr folgende Ordnung lässt eingestreute Verweise der Art "wie ich zuvor gesagt habe" verständlich werden; tatsächlich beziehen sie sich in vielen Fällen auf das, was von Eckhart in früheren Predigten ausgeführt worden war. Und dies ist ein starkes Argument für eine mögliche redaktionelle Bearbeitung der Predigten.

Sie sind mithin nicht das Ergebnis einer zufälligen Überlieferung, von dem abhängig, was fromme Nonnen zu Füßen eines Predigers an Mitschriften produzierten, sondern vielmehr in ihrer Kohärenz und Konsistenz in Stil und Inhalt das Produkt überlegter Redaktion.

Die vorliegende Publikation gibt nicht vor, eine verlorene originale Sammlung volkssprachiger Predigten Eckharts zu rekonstruieren (auch wenn davon ausgegangen wird, dass eine solche Sammlung existiert haben muss). Die mittelhochdeutschen Texte sind zum größten Teil der kritischen Edition von Josef Quint und Georg Steer in DW I-IV (unter Auslassung des kritischen Apparats) entnommen [6], was gelegentliche Rückgriffe auf neuere Editionen nicht ausschließt. Der Quellenapparat beruht auf der Arbeit von Quint/Steer und wurde à jour gebracht.

Die neue englische Übersetzung entstand ausgehend vom Originaltext. Sie leistet Großartiges, musste sie doch die individuelle, die Grenzen des damals in der Volkssprache Sagbaren sprengende Rhetorik Eckharts so übertragen, dass dieses Neue auch tatsächlich als terminologisch und rhetorisch "neu" zu erkennen blieb. Eckhart war zwar kein früher Vertreter des Dekonstruktivismus, Sprache brachte er aber (nicht zuletzt auch durch neue Wortschöpfungen) an ihre Grenzen. In der englischen Übersetzung hat man sich gegen Glättungen im Sinne eines flüssigen Lesens entschieden und erreicht damit doch gerade das, was wohl auch Eckhart intendierte: ein Stolpern über einzelne Worte bzw. Wortverbindungen, was wiederum zu tieferen Reflexionen anregt.

Jede Predigt verfügt über eine knappe Einleitung mit Angaben zum liturgischen Ort und zur Überlieferung. Es folgt eine knappe Inhaltsübersicht, die insbesondere bei umfangreichen und theologisch komplexeren Sermones ausgesprochen gute Dienste leistet. Vor dem eigentlichen Predigttext, dem eine englische Übersetzung gegenübergestellt ist, sind Hinweise auf Editionen und frühere englische Übertragungen zu finden.

Der Dominikaner (Meister) Eckhart gehört heute zu den bekanntesten Persönlichkeiten des 14. Jahrhunderts. In ihm manifestiert sich eine Gedanken- und Erfahrungswelt, der einiges an subversiver Sprengkraft innewohnt. Ob er freilich, wie von den Herausgebern behauptet, die großen Gestalten seines eigenen Ordens wie Thomas von Aquin oder Albertus Magnus an Strahlkraft übertraf, sei dahingestellt. Aufs große Ganze der Entwicklung des theologischen Denkens im spätmittelalterlichen Europa hin betrachtet, scheint dieses Diktum etwas zu weit zu führen. Die nun versammelten Predigten (samt ihrer kongenialen Übersetzung) zeugen vom Verlangen Eckharts, anders als bisher üblich zu predigen, sich einer locutio emphatica zu bedienen, die Zugriff auf verborgene, im Inneren des Menschen versteckte Bewusstseins- und Erfahrungsräume erlaubt - ein wichtiger Teilbereich dessen, was gemeinhin unter der Begrifflichkeit "Mystik" subsumiert wird.

Auf die beiden Folgebände darf man gespannt sein.


Anmerkungen:

[1] In der Einleitung wird das Gründungsjahr der Universität Paris ins Jahr 1150 vorverlegt (4). Sicherlich hatte zu diesem Zeitpunkt die Konzentration der Schulen freier Magister an der Seine bereits eine kritische Masse erreicht - von einer wahren universitas in institutionellem Sinn kann tatsächlich aber erst einige Jahrzehnte später gesprochen werden. Richtig ist demgegenüber der Hinweis auf Bologna als "the very first university of the West (1088)" (4).

[2] Meister Eckhart: Predigten und Traktate (Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, 2), hg. von Franz Pfeiffer, Leipzig 1858 (ND Aalen 1991).

[3] Meister Eckhart: Die deutschen und die lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Die deutschen Werke, hgg. von Josef Quint / Georg Steer, Stuttgart 1973-2003.

[4] Erst 2009 war die aus dem Jahr 1987 stammende englische Übersetzung der volksprachigen Werke Meister Eckharts durch den Großmeister der Mystikforschung, Bernard McGinn, einer Revision unterzogen und in einem schwergewichtigen Band veröffentlicht worden, vgl. Meister Eckhart: Sermons and Treatises, trans. Maurice O'Connell Walshe, 3 Bde., Longmead 1987; jetzt: The Complete Mystical Works of Meister Eckhart, trans. and ed. by M. O'C. Walshe, revised by Bernard McGinn, New York 2009.

Ralf Lützelschwab