Rezension über:

Lara Freidenfelds: The Myth of the Perfect Pregnancy. A History of Miscarriage in America, Oxford: Oxford University Press 2020, 256 S., ISBN 978-0-19-086981-6, GBP 19,99
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Rezension von:
Martina Sochin-D'Elia
Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Martina Sochin-D'Elia: Rezension von: Lara Freidenfelds: The Myth of the Perfect Pregnancy. A History of Miscarriage in America, Oxford: Oxford University Press 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/34211.html


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Lara Freidenfelds: The Myth of the Perfect Pregnancy

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Fehlgeburten sind eine Tatsache der Natur. Rund 20 Prozent aller bestätigten Schwangerschaften enden in einer Fehl- oder Totgeburt. Zählt man diejenigen Schwangerschaften hinzu, die zwischen Befruchtung und Einnistung in der Gebärmutter verloren gehen, erhöht sich der Anteil an Fehlgeburten sogar auf geschätzte 70 Prozent (4-5). In den vergangenen Jahren sind im deutschsprachigen Raum Initiativen entstanden, die der Trauer der betroffenen Eltern um ihre Fehlgeburten Raum geben. Grundsätzlich aber, wird das Thema Fehlgeburt in der heutigen Gesellschaft als Tabu gehandelt.

In den USA haben sich jüngst zwei Medizinhistorikerinnen mit dem Thema Fehlgeburten auseinandergesetzt. Während sich Shannon Withycombe den Fehlgeburtserfahrungen von US-amerikanischen Frauen des 19. Jahrhunderts widmet,[1] spannt Lara Freidenfelds im hier zu besprechenden Buch einen Bogen vom 18. bis ins 21. Jahrhundert und möchte dem "Mythos einer perfekten Schwangerschaft" entgegentreten.

In acht Hauptkapiteln geht sie der Frage nach, wie unterschiedliche gesellschaftliche, medizinische und technische Innovationen ineinandergriffen und dabei das Verständnis von Schwangerschaft und damit auch von Fehlgeburten für immer veränderten (6). Dabei macht sie deutlich, weshalb ihr Untersuchungszeitraum bereits im 18. und nicht erst im 20. Jahrhundert mit der Erfindung von Ultraschall und Schwangerschaftstest beginnt. Obwohl diese medizinischen und technologischen Fortschritte vordergründig den grössten Einfluss auf das heutige "Erlebnis Schwangerschaft" (6) hatten, weist Lara Freidenfelds nach, dass der Grundstein dafür schon im 18. Jahrhundert gelegt wurde, nämlich mit den sich gesellschaftlich wandelnden Vorstellungen von Fruchtbarkeit, Geburtenkontrolle und Elternschaft.

Lara Freidenfelds spricht in ihrem Buch über Fehlgeburten, indem sie sich ausführlich den verschiedenen Stadien von Schwangerschaft und Elternschaft annimmt. Das Thema Fehlgeburt ist damit nicht eigentlicher Hauptangelpunkt des Buches, sondern wird indirekt als Folge einer nicht vollendeten Schwangerschaft angegangen.

Anhand von Beispielen von Frauen aus dem kolonialen Amerika führt sie im ersten Kapitel ins Schwanger-Sein im 18. Jahrhundert ein. Die Frauen wurden damals vielfach über ihre Fruchtbarkeit definiert und ihre eigentliche Hauptaufgabe bestand im Gebären von Kindern. Aus dieser Vorstellung resultierten entsprechend grosse Familien, die wiederum zahlreiche Schwangerschaften bedingten. Nicht alle Schwangerschaften aber endeten mit der Geburt eines Kindes. Die Frauen im kolonialen Amerika wussten aus Erfahrung, dass nicht aus jeder Schwangerschaft ein Kind entsteht (30) und legten dabei eine Art Fatalismus an den Tag: "A miscarriage was a mishap on the way to having another child. It was part of a long and sometimes bumpy journey to a family [...]" (30).

Davon ausgehend widmet sich Lara Freidenfels im zweiten Kapitel eingehend der Geburtenkontrolle. Sie zeichnet nach, dass verschiedene Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle schon im 18. Jahrhundert und nicht erst seit der Existenz der Anti-Baby-Pille angewendet wurden. Frauen in der damaligen Zeit hatten während ihres reproduktiven Alters meist keine Pause vor dem Schwanger-Sein. Zudem bargen Schwangerschaften allerhand gesundheitliche Risiken, bis hin zum Tod der Mutter bei der Geburt. Möglichkeiten, um die Abstände zwischen den geborenen Kindern etwas zu verlängern, waren erwünscht. Fehlgeburten galten dabei als akzeptierte und auch willkommene Form. Lara Freidenfelds macht deutlich, wie die medizinischen Innovationen zu einer heutigen Geburtenkontrolle geführt haben, die den Frauen eine vermeintlich völlige Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit zuspricht. Mit der richtig angewandten Empfängnisverhütung wird heute (fast) niemand mehr ungewollt schwanger. Nur gilt gleichzeitig das Umgekehrte nicht: Ohne Empfängnisverhütung wird frau erstens nicht gesichert schwanger und trägt zweitens auch nicht gesichert ein Kind aus. Fehlgeburten gehören nach wie vor zum Schwanger-Sein und Eltern-Werden dazu.

Die restlichen sechs Hauptkapitel bringen unterschiedliche Themen rund um das Gebären von Kindern zur Sprache, wie die sich verändernde Bedeutung von Elternschaft, die Schwangerschaftsvorsorge, die Vermarktung von Schwangerschafts- und Babyartikeln, den in den USA weitaus stärker vorhandenen Abtreibungsdiskurs, die Bedeutung des Ultraschalls sowie des Schwangerschaftstests. Jeweils chronologisch beleuchtet, zeigt Lara Freidenfelds in jedem dieser Kapitel anhand einer sehr breiten Quellenauswahl auf, wie medizinische und technische Innovationen, den gesellschaftlichen Diskurs über Schwangerschaft verändert haben.

All diesen Kapiteln gemeinsam ist, dass sie im Wesentlichen skizzieren, wie sich das gesellschaftliche Verständnis von der Verantwortung der Frauen beziehungsweise Paare für ihre Kinder in den vergangenen 250 Jahren vom Zeitpunkt der Geburt auf den Zeitpunkt der Empfängnis vorverschoben hat. Der zuhause durchführbare Schwangerschaftstest wie auch die gängig gewordene Ultraschalluntersuchung haben aus einem vielleicht werdenden Kind ein bereits im Mutterbauch existierendes Baby gemacht. Diesen Umstand haben sich entsprechend auch Marketingspezialisten zum Auftrag gemacht. Die Vermarktung von Babyartikeln ist zum "big business" (135) geworden.

Die medizinischen und technischen Innovationen haben auch dazu geführt, dass Schwangerschaften immer früher entdeckt werden. Fehlgeburten sind damit nicht grundsätzlich häufiger geworden, aber sie werden häufiger überhaupt nachgewiesen (183). Gleichzeitig - so Lara Freidenfelds - erzeuge das verbreitete Narrativ vom schon vom Zeitpunkt der Empfängnis an existierenden Baby viele falsche Vorstellungen und vermeidbare Trauer (191-192).

Zumindest indirekt wird in jedem einzelnen Buchkapitel klar: Lara Freidenfelds kritisiert den heute in den USA bestehenden Umgang mit Schwangerschaft deutlich. Ihr gelingt es, Vergangenheit und Gegenwart für die von ihr behandelten Themen zu Schwangerschaft und Fehlgeburt jeweils gekonnt gegenüberzustellen und dabei die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit entsprechend zu hinterfragen. In ihrem Schlusskapitel plädiert sie dafür, hinter das heutige Narrativ von Schwangerschaft ein Fragezeichen zu setzen und damit auch (wieder) einen natürlichen Umgang mit Fehlgeburten zu finden. Und damit eben den "Mythos einer perfekten Schwangerschaft" zu entmystifizieren.

Und in Europa? Lara Freidenfelds Buch zeigt den in den USA sehr stark vorhandenen Einfluss der Abtreibungsdebatte auf das Narrativ von (nicht erfolgreichen) Schwangerschaften und beleuchtet ebenso die in den USA gesellschaftlich viel offensiveren Vermarktungsstrategien in Bezug auf das Geschäft mit Babyartikeln. Gleichzeitig finden sich Gedanken zum Umgang mit fehlgeborenen Kindern, also Fragen der Religiosität und des Brauchtums, kaum. Im deutschsprachigen Raum haben sich Historikerinnen und Historiker seit den 1990er-Jahren ausführlich mit Fragestellungen rund um das Erlebnis von Schwangerschaften und die Geburtshilfe beschäftigt.[2] Eine auf die europäischen Verhältnisse angepasste Darstellung zu Fehl- und Totgeburten, wie sie sowohl Lara Freidenfelds wie auch Shannon Whitycombe nun vorgelegt haben, steht allerdings auch hierzulande noch aus.


Anmerkungen:

[1] Siehe Shannon Withycombe: Lost. Miscarriage in Nineteenth-Century America, New Brunswick 2019.

[2] Siehe dazu beispielsweise: Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1991.

Martina Sochin-D'Elia