Rezension über:

Hanno Hochmuth / Paul Nolte (Hgg.): Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 22), Göttingen: Wallstein 2019, 359 S., 10 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-8353-3524-0, EUR 29,90
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Rezension von:
Ekkehard Henschke
Oxford / Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ekkehard Henschke: Rezension von: Hanno Hochmuth / Paul Nolte (Hgg.): Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/33760.html


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Hanno Hochmuth / Paul Nolte (Hgg.): Stadtgeschichte als Zeitgeschichte

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Die Metropole Berlin ist in vielerlei Hinsicht ein gutes Objekt für historisch Arbeitende. Für wissenschaftlich Ambitionierte ebenso wie für Praktiker in Museen, Bibliotheken und Kommunalverwaltungen bieten die zwölf Aufsätze von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Menge neuer Aspekte der Betrachtung. Sie umfassen die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der 1990er Jahre und geben zugleich methodische Anregungen für die weitere moderne Stadtgeschichtsforschung.

Die Einleitung der beiden Herausgeber gibt einen Überblick über die Historiografie der Stadtgeschichtsforschung im geteilten Berlin und weist auf die Entstehung der Aufsätze hin. Sie entstammen fast alle dem neuen Masterstudiengang "Public History", der sich am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin nach 2008 etabliert hat.

In die Kaiserzeit fallen überwiegend die Aufsätze zur architektur- und sozialgeschichtlichen Bedeutung der "Mietskaserne" (Kathrin Meißner) und der Modernisierung der Straßenbeleuchtung durch elektrischen Strom (Lisa Gerlach). Die Spezialstudien zur Sportgeschichte am Ende der Weimarer und zu Beginn der NS-Zeit zeigen ein seltenes Kapitel jüdischen Lebens (Philipp Holt; Aylin Herker). Darauf folgen Untersuchungen zum amerikanisch besetzten Westteil Berlins, die insbesondere dem Frauenleben aus den Ruinen gewidmet sind (Lena Rudeck; Laura Throckmorton), gefolgt von Studien über neue soziale Bewegungen im West-Berlin der 1970er Jahre (Anina Falasca; Julia Wigger). Bis in die Gegenwart reichen die Aufsätze zur Hausbesetzerszene und zu den Integrationsbemühungen um die überwiegend türkischen Bewohner (Stefan Zeppenfeld; Malte Borgmann). Den Abschluss bilden die Untersuchungen zur Erinnerungskultur an den Beispielen der Brachen, die nach dem Mauerfall auf dem Gelände der heutigen "Topographie des Terrors" und der Oberbaumbrücke (Matthias Stange; Clemens Villinger) entstanden waren.

Alle Studien wurden in dem Buch erstmals publiziert. Sie haben sich der einschlägigen Sekundärliteratur ebenso bedient wie der von schriftlichen und mündlichen Zeugnissen. In der theoretischen und methodischen Ausrichtung sowie in der Behandlung des Raumes (Berlin als Ganzes, Bezirke oder Stadtteile) bieten die Aufsätze eine Vielfalt. So greift beispielsweise Anina Falasca auf französische Theoretiker wie Michel Foucault und Jean-Francois Lyotard zurück, wenn sie Entstehung und Folgen des Tunix-Kongresses von 1978 darstellt ("Macht Rhizome!", 197-217). Die Bewegung dazu entwickelte sich aus einem linksalternativen Milieu und war ein undogmatischer, von Karl Marx losgelöster Protest gegen den "Deutschen Herbst". Sie führte schließlich zur Parteibildung der Alternativen Liste und der Grünen. - Andererseits werden Methoden der Oral History, die zwischenzeitlich aus der Mode gekommen war, wieder aufgegriffen. Dies tut Laura Throckmorton (Leben zwischen Ruinen, 168-193). Aufgrund von zehn Gesprächen, die sie 2015/2016 mit Zeitzeugen über die Nachkriegszeit geführt hat, entstand ein vielfältiges Bild des Alltags im Bezirk Schöneberg. Er war z.T. hart von den Bomben getroffen worden: 35.000 Wohnungen waren hier zerstört, nachdem Berlin am 02.Mai 1945 kapituliert hatte. Die rund 170.000 Einwohner hatten in einem Bezirk mit sozial gemischter Bevölkerung überlebt (172-173). Sie hatten zuvor in den sogenannten Mietskasernen für die Arbeiter oder in herrschaftlichen Wohnungen bzw. sogar Villen im Südwesten Berlins gewohnt. Sie mussten sich nun mit existenziellen Mängeln auseinandersetzen. Dazu zählten nicht nur der Mangel an Wohnungen, sondern auch Mangel an Heizmaterial im besonders kalten Winter 1946/1947, an Nahrungsmitteln, der z.T. durch die Rationierung der Lebensmittelkarten, z.T. durch die zahlreichen sich ausbreitenden Schwarzmärkte gedeckt wurde. Der Marshall-Plan ermöglichte es, bis 1950 ungefähr ein Zehntel der nur teilweise bewohnbaren Wohnungen wiederherzustellen. Bei der Bewältigung der alltäglichen Nöte waren familiäre und andere soziale Netzwerke lebensentscheidend. Die gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen ergab sich schon aus dem Mangel an Schulräumen, der - auch wegen des Lehrermangels und großer Klassen - dazu führte, dass wechselweise am Vormittag und am Nachmittag unterrichtet wurde.

Recht detailliert stellt Malte Borgmann die Migrationspolitik in West-Berlin dar (Von der Anwerbung zur Anerkennung, 270-297). Zeitlicher Ausgangspunkt ist 1961, das Jahr des Mauerbau Im Zentrum steht der Berliner Bezirk Kreuzberg, in dem seit den frühen 1970er Jahren bestimmte Sanierungsgebiete mit hohen Migrantenanteilen sogenannte "Ausländer-Ghettos" entstanden waren. Auf mehreren politischen Ebenen (Senat, Bezirk) wurde seit 1970 versucht, die sozialen Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu mindern. Die Anwerbung von "Gastarbeitern", die Mitte der 1950er in Westdeutschland begonnen hatte, setzte in West-Berlin erst infolge des Mauerbaus ein, der das Pendeln zwischen Ost- und West-Berlin zu einem Ende gebracht hatte. Im Jahre 1973 wurden bereits etwa 117.000 Zuwanderer aus der Türkei (57 %) bzw. Jugoslawien (24 %) gezählt (273). Daran waren zu 41 % Frauen beteiligt, die überwiegend in der West-Berliner Elektroindustrie tätig waren. Damit zogen aber auch ganze Familien nach Berlin, die wiederum wegen der niedrigen Löhne billige Wohnungen nur in den Sanierungsgebieten (neben Kreuzberg auch Wedding und Tiergarten) fanden. Die Folge waren öffentliche Diskussionen über deren Integration aufgrund der "natürlichen Andersartigkeit" der Kulturen, die mit denen der Deutschen kollidierten und dazu führten, dass Deutsche innerhalb von West-Berlin migrierten. In dem öffentlichen Streit um "Anpassung", demokratische "Teilhabe", "Zuzugssperre" oder "Einbürgerung" in eine neue "Stadtgesellschaft" angesichts eines meist unsicheren Aufenthaltsstatus' schwankte die offizielle Politik, die von wechselnden politischen Koalitionen im Senat geprägt war. Im Jahre 1981 schließlich versuchte eine von der CDU gestellte Landesregierung unter Richard von Weizsäcker den gordischen Knoten zu durchschlagen. Sie appellierte insbesondere an die türkischstämmigen Einwohner, die sich zumeist zu einem als fremd empfundenen Islam bekannten, sich zwischen Einbürgerung und "Rückkehr in die alte Heimat" zu entscheiden. Die Einschränkung des Familiennachzugs (Erlass des Innensenators Heinrich Lummer von 1981; 289-290) brachte jedoch beide Seiten auf, zumal ein Teil der deutschen Bevölkerung die Einwanderung anerkannte und damit die Eingewanderten "als festen Bestandteil der Stadtgesellschaft" betrachtete (290). Die Probleme, die mit der "kulturellen Differenz" auf politischer Ebene beschrieben wurden, haben an Brisanz seitdem nicht abgenommen.

Abgesehen von einigen sprachlichen Ungewöhnlichkeiten (z.B. "expliziteres Othering" auf 287 und "Verräumlichung gesellschaftlicher Beziehungen" auf 353) ist ein gutes Sammelwerk zur Stadtgeschichte des modernen Berlins entstanden. Die Aufsätze sind methodisch interessant und durch die Nutzung von archivalischen Quellen und aktueller Literatur solide belegt. Schade nur, dass ausgerechnet ein Index der handelnden Personen und ein Literaturverzeichnis fehlen.

Ekkehard Henschke