Rezension über:

Jörg Deuter: Zweimal Prager Frühling. Über eine Ausstellung, die nicht sein durfte, und über Bohumil Kubišta und die Maler der "Brücke", Laugwitz-Verlag 2019, 139 S., ISBN 978-3-933077-60-8, EUR 13,00
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Rezension von:
Michael Kröger
Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kröger: Rezension von: Jörg Deuter: Zweimal Prager Frühling. Über eine Ausstellung, die nicht sein durfte, und über Bohumil Kubišta und die Maler der "Brücke", Laugwitz-Verlag 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/33595.html


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Jörg Deuter: Zweimal Prager Frühling

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Wie auch in früheren Schriften hat sich der Autor mit einer relativ wenig erforschten Schnittstelle in der west-östlichen Kunst- und Ausstellungsgeschichte auseinandergesetzt. In dem Band Zweimal Prager Frühling, der sich dem Austausch zwischen den Künstlern der Brücke und ihren Künstlerkollegen in Prag der Zeit um 1911ff. widmet, geht es um zwei "Parallelaktionen", die sich im Abstand von circa 50 Jahren in Prag ereigneten und in dessen Zentrum der tschechische Maler Bohumil Kubišta und der deutsche Kunsthistoriker Gerhard Wietek stehen, der den Werdegang des Autors seit den achtziger Jahren begleitete. 1911 kommt es im tschechischen Mnischek zu einer Begegnung zwischen deutschen Malern der "Brücke" wie Otto Mueller sowie Künstlern der tschechischen Avantgardekunstguppe "Skupina" zu denen auch Bouhoumil Kubišta gezählt wird. Deuter belegt diese Begegnung mit einer Künstlerpostkarte Kubištas, die 1964 vom damaligen Leiter der Altonaer Museen, Gerhard Wietek, erworben wurde: eine Dame mit Hut (1911), deren Person Deuter akribisch mit Hilfe einer Fotografie als Maschka Mueller identifizieren kann.

Wietek, dem die Kunstgeschichtsforschung Standardwerke zur "Brücke", zur Künstlerpostkarte sowie zu Georg Tappert verdankt, konnte 1968 auf ziemlich abenteuerlichen Wegen für die Dauer einer Woche in Prag eine Ausstellung der von in Altona gesammelten Künstlerpostkarten realisieren - die fast unglaubliche Geschichte dieser Aktion steht im Zentrum dieses Bandes. Wietek wollte mit dieser Ausstellung 1968 auch in Prag an die damals wenig bekannten tschechisch-deutschen Kulturbeziehungen erinnern, wie sie, wie Deuter anschaulich beschreibt, zwischen den Brücke-Künstlern und ihren Kollegen der tschechischen Avantgardekunst, die sich vor allem durch Picasso inspirieren ließen, entstanden waren. Deuter widmet sich in einem eigenen Kapitel über das verbindende Phänomen "Kubismus" den gemeinsamen Wurzeln, die sowohl die Gestaltungen der Künstler der "Brücke" betrafen, wie auch von ihren tschechischen Freunden, wenngleich auch weniger explizit und offen, rezipiert wurden. In diesem Kontext verweist Deuter zu Recht auf die bedeutende Rolle des Kunsthistorikers und späteren Direktors der Prager Nationalgalerie Vincenc Kramář, der bei Kahnweiler sein erstes Picasso-Bild gekauft hatte. Weite Teile seiner Untersuchung widmet Deuter den umfangreichen persönlichen Verbindungen und Verwicklungen, in denen tschechische Künstler - allen voran Bohumil Kubišta, nach 1911 auch in Deutschland ausstellen konnten. Kubišta gelang es, seinen deutschen Künstlerfreunden gleich vier Werke mit auf die Reise nach Deutschland zu geben, wo sie sofort auf der 4. Ausstellung der Neuen Secession im November 1911 präsentiert wurden. Im Gegenzug stellten dann 1912 in der Ausstellung der "Skupina"-Künstler auch Mueller, Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff aus. Am analytischen Kubismus Picassos, speziell in dessen 1909 entstandener kubistischen Plastik "Kopf einer Frau", die 1909 durch Kramář angekauft wurde, verdeutlicht Deuter, wie unterschiedlich die kubistische Formzerlegung sowohl von tschechischer als auch von deutscher Seite rezipiert und jeweils spezifisch weitergeführt wurde. Die Präsenz Picassos in Prager Ausstellungen ist inzwischen von tschechischer Seite ausführlich untersucht worden. Aber auch Gerd Wietek war maßgeblich an der Wiederentdeckung Kubištas beteiligt. Stellte er doch beispielsweise "Pierrot" (1911) erst 2001 in der Ausstellung "Die Brücke in Dresden 1905 - 1911" in der Stattlichen Kunstsammlung Dresden aus. Deuter widmet sich aber ausführlich der Rolle Kubištas als Kunstkritiker und Essayisten, dessen Texte als Vorläufer des damals sich entwickelnden und von Wilhelm Worringer formulieren Topos vom "Geistigen in der Kunst" betrachtet werden können. Unbekannt war der deutschsprachigen Kunstgeschichte bisher, dass Kubišta, so jedenfalls der Autor, von zeitgenössischen Naturwissenschaft, etwa dem tschechischen Mathematiker und Physiker Vaclav Posejpal (1874-1935) beeinflusst war, dem der Künstler ein erweitertes Verständnis von anschaulichen Denksymbolen wie Hyperbeln und Parabeln verdankte. Und offenbar besaß Kubišta wohl auch Kenntnisse von Einsteins Begrifflichkeit der Gravitation. Nach Deuters Interpretation lässt sich Kubištas Malerei als Versuch einer Sichtbarmachung der Synthese aus Raum und Zeit zu einem vierdimensionalen Kontinuum erkennen.

Die zweite Hälfte des Buches besteht in der detaillierten, ja fast kriminalistisch anmutenden Recherche der Hintergründe von Gerd Wieteks verwegenem Plan, die von ihm realisierte Sammlung expressionistischer Künstlerpostkarten erstmals überhaupt in Prag - ausgerechnet zur Zeit des Prager Frühlings 1968 - zu präsentieren. Mit dieser Recherche erfüllte Deuter seinem langjährigen "väterlichen Mentor und Freund" nicht nur dessen Wunsch, dieses Kapitel eines ost-westlichen Kulturaustausches erstmals überhaupt zu erzählen. Aus heutiger Sicht erscheint Wieteks damalige Vorgehensweise mehr als verwegen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, überhaupt einen Kontakt zu einem Vetter Kubištas aufzunehmen, gelang es Wietek im August 1968, seine Sammlung expressionistischer Künstlerpostkarten (u.a. von Barlach, Baumeister, Feininger, Grosz,. Heckel, Kirchner, Kokoschka, Kubin etc. ) im Dientzenhofer-Palais in Prag-Smichow zu präsentieren - allerdings mit geradezu abenteuerlichen Effekten. Nachdem die Ausstellung nur acht Tage geöffnet blieb, wurde sie aus heute immer noch unbekannten Gründen geschlossen. Schlimmer noch, die Ausstellungsobjekte schickte man zunächst nicht an Wietek zurück. Detailliert schildert Deuter dann, wie Wietek schließlich Monate später seine heute unbezahlbare Sammlung wieder durch einen nächtlichen Boten zurückerhielt. Eine veritable Kriminalgeschichte, bei der man den Eindruck gewinnen mag, dass der Autor auch eine Karriere bei der Spurensicherung hätte anstreben können. Jörg Deuter gelingt es auf diese Weise, nicht nur ein buchstäblich spannendes Kapitel der mitteleuropäischen Kunstgeschichte zwischen Hamburg, Berlin und Prag zu erzählen. So detailversessen der Autor manchen Spuren gefolgt ist - es gelingt ihm beispielsweise, eine Innenaufnahme der zweiten "Skupina"-Ausstellung im Herbst 1912 ausfindig zu machen und die abgebildeten Werke Kirchner und Heckel zuzuordnen - so ist er gleichzeitig in der Lage, in groben Zügen das übergreifende Interesse von vielen Künstlern an den relevanten Kunsttheorien jener Zeit im gleichsam panoramatischen Überblick zu skizzieren. Deuters Untersuchung erweist sich dabei sowohl als gut recherchiertes Ergebnis eigener sowie tschechischer Forschungen zum deutsch-tschechischen Künstlerdialog, aber auch als geduldig verfolgtes, persönlich gestaltetes Erinnerungsprodukt seiner häufigen Gespräche mit Gerd Wietek, dem es in seinen letzten Lebensjahren selbst nicht mehr gelang, diese zahlreichen und unzusammenhängenden Fäden zu einem Text zusammenzuführen.

Michael Kröger