Rezension über:

Matthew R. Bahar: Storm of the Sea. Indians and Empires in the Atlantic's Age of Sail, New York: Oxford University Press 2019, XIV + 287 S., 1 Kt., 12 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-087424-7, GBP 22,99
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Rezension von:
Sünne Juterczenka
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Sünne Juterczenka: Rezension von: Matthew R. Bahar: Storm of the Sea. Indians and Empires in the Atlantic's Age of Sail, New York: Oxford University Press 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/32937.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Atlantische Geschichte" in Ausgabe 19 (2019), Nr. 11

Matthew R. Bahar: Storm of the Sea

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Dieses Buch handelt von Jägern, Händlern und Kriegern, aber auch von Seeleuten, Fischern und Piraten. Es geht um die Wabanaki, einem Zusammenschluss sprachlich und kulturell verwandter, im heutigen Nova Scotia, Maine und Massachusetts an der nordamerikanischen Ostküste ansässiger indigener Gruppen. Seit der Ankunft von Europäern eigneten sich die Wabanaki neue nautische Technologien an und kombinierten sie mit ihrer traditionellen maritimen Expertise. Ihre daraus entwickelte "blue water strategy" (3) stellten sie der europäischen Kolonisierung entgegen; zugleich blieb beides untrennbar miteinander verwoben.

Matthew Bahar zufolge wurde diese Geschichte maßgeblich bestimmt von der Verbundenheit der Wabanaki mit dem Meer und von ihrer Fähigkeit, diese Verbundenheit immer wieder zu adaptieren und zu aktualisieren. Zwischen 1500 und 1763 wandelten sich nicht nur die Beziehungen zwischen Wabanaki und Europäern, sondern auch die Wabanaki-Gesellschaften selbst. Ihre Schifffahrt schuf das "connective tissue" (5) einer neuen politischen Ökonomie und einer neuen regionalen Konföderation mit dem Ziel, die Europäer unter Wahrung der eigenen territorialen Souveränität zu integrieren und von ihnen zu profitieren. Zudem wurde der Atlantik für die Wabanaki zu einer Arena sozialer Mobilität und sich profilierender (männlicher) Geschlechterbilder.

Begünstigten das Segeln und europäische Schiffbautechniken zu Beginn vor allem die Herrschaftsausdehnung der Gruppe der im Norden lebenden Mi'kmaq, so gerieten sie während der zahlreichen europäischen, die Wabanaki aber unmittelbar betreffenden Kriege zu einem Mittel des Widerstands, etwa auch der weiter südlich ansässigen Abenaki. Immer wieder gelang es ihnen, Siedlungen, Sägewerke, Weidetiere und den Fischfang der Briten, die lokale Ressourcen belasteten, im Schach zu halten - durch geschicktes Ausnutzen der geopolitischen Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich, aber eben auch durch Seeraub, Kapern, Kidnapping. Erbittert über rein europäische Friedensverhandlungen, bei denen sie nicht zu Rate gezogen wurden, fühlten sie sich an die resultierenden Verträge nicht gebunden. So reagierten die Wabanaki u.a. mit gewaltsamen Angriffen auf die Siedler, als die Briten den mit ihnen verbündeten Franzosen Nova Scotia abnahmen.

Doch nach dem Siebenjährigen Krieg hob der Pariser Vertrag von 1763 die britisch-französische Kräftebalance endgültig zugunsten der Briten auf, und die Wabanaki verloren ihre Verbündeten. Uneins, ob sie dem britischen Expansionsdrang eher mit diplomatischen Mitteln oder mit Gewalt begegnen sollten, erlebten sie intergenerationelle Konflikte und eine Führungskrise. Als die Briten den Wabanaki schließlich noch ihr politisches Kraftzentrum und den letzten Zugang zum Atlantik nahmen, konnten Kolonisten selbst in Gebieten siedeln, die den Wabanaki vertraglich zugesichert worden waren, und deren Beschwerden fanden kein Gehör mehr. Wabanaki betätigten sich zwar auch weiter in maritimen Berufen (etwa im Walfang), mussten sich aber fortan als Lohnarbeiter verdingen.

Unter den Indigenen Nordamerikas waren die Wabanaki eine Ausnahme: Während andere ihre Territorien im Binnenland zäh verteidigten und teilweise in entfernte Gebiete migrierten, um am Ende doch ihrer Lebensgrundlage beraubt zu werden, konnten die Wabanaki nicht zuletzt dank ihrer "blue water strategy" europäische Siedlungsaktivitäten zeitweise stoppen bzw. rückgängig machen und die Kolonisten mehrfach ihrer Kontrolle unterwerfen.

Diese Geschichte einer maritim geprägten Existenz und einer maritimen Dimension der europäisch-nordamerikanischen Begegnungen geriet in der Folge in Vergessenheit. Denn nach der Amerikanischen Revolution mochten die Kolonisten weder daran denken, dass sie den Angriffen der Wabanaki lange wenig entgegenzusetzen gehabt hatten, noch daran, dass es Großbritannien gewesen war, das sie schließlich aus dieser misslichen Lage befreit hatte. In jüngerer Zeit wurden die Wabanaki zu Protagonisten einer Verlustgeschichte. Im Zuge ihres nation building imaginierten viele US-Amerikaner die Kolonialisierung im Nachhinein als durch und durch zielstrebig und erfolgreich.

Die Historiografie hat Bahar zufolge ihren Teil dazu beigetragen: Über dem plausiblen neueren Verständnis des Atlantiks als Route und Weg statt als Barriere geriet aus dem Blick, wie isolierend ozeanische Distanz eben auch wirken konnte. Hier zeigt sich die Relevanz dieser aus einer Dissertation hervorgegangenen Studie für das Forschungsfeld: Scheinbar schlüssige metageografische Konzeptionalisierungen, in diesem Fall des Atlantikraumes, können durch neue Akzente weiter an Profil gewinnen. Den Blick von West nach Ost zu wenden, wie es Daniel Richter programmatisch gefordert hat [1], ist dabei ebenso hilfreich wie der Wechsel der Blickrichtung hin zu einer maritimen "history from below". [2] Bahar argumentiert indessen nicht aus einer politisch-ideologischen Position heraus, sondern auf der Grundlage einer mittlerweile gut etablierten Ethnohistory, die sich stetig globalisiert und in den historiografischen Mainstream eingeschrieben hat. [3] Was diese vor allem zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der kulturellen Begegnungen beitragen kann, sind innovativer Quellengebrauch und ausgeklügelte Methodik angesichts oftmals fehlender schriftlicher Überlieferungen. Hier reiht sich Bahar mit Storm of the Seas ein, indem er europäische Quellen gegen den Strich liest und auch mündliche Überlieferungen der Wabanaki nutzt.

Dabei geht es, so signalisiert der auf Richters Forderung anspielende und mitunter bis zur Ermüdung wiederholte Slogan des "looking east", weniger um eine historiografische Kehrtwende, sondern eher um eine Kurskorrektur. Sie stellt zeitgenössische Erfahrungen und Deutungen in den Mittelpunkt, in diesem Fall mit dem maritimen Erbe der Wabanaki verknüpfte politische Ambitionen, aber auch Sorgen, Ängste und Enttäuschungen der Kolonisten - ja, ihren blanken Horror angesichts eskalierender wechselseitiger Übergriffe zu Zeiten, als aus Europa kaum Unterstützung zu erwarten war. In diesem zeitgenössischen Horizont hatte das Ziel der Wabanaki, eine europäische Präsenz an der nordamerikanischen Ostküste nur zu ihren Bedingungen zuzulassen, mehr Aussicht auf Erfolg, als es selektive Erinnerungen heute nahelegen.

Wie sich trotz einseitiger Überlieferungen die Kontingenzen der atlantischen Geschichte freilegen lassen und inwiefern der Erfolg europäischer Imperien und globaler Ökonomien keineswegs unausweichlich war, das macht Bahar anschaulich. Quellennah, packend erzählt und konsequent die eingangs umrissene These einlösend, verdient sein Buch dafür große Anerkennung.


Anmerkungen:

[1] Daniel K. Richter: Facing East from Indian Country. A Native History of Early America, Cambridge, MA 2001.

[2] Peter Linebaugh / Marcus Rediker: The Many-Headed Hydra. The Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston, MA 2000.

[3] Bahar greift hier auf prominente Vertreter wie James Axtell oder Colin Calloway zurück; zu nennen wäre darüber hinaus etwa auch Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples, 2. Aufl., London 2012.

Sünne Juterczenka