Rezension über:

Mareike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910), Göttingen: Wallstein 2018, 423 S., 17 Farb-, 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3252-2, EUR 37,00
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Rezension von:
Magnus Altschäfl
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Magnus Altschäfl: Rezension von: Mareike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910), Göttingen: Wallstein 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32386.html


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Mareike Vennen: Das Aquarium

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Wie verschickt man eine Seeanemone? Welche Gefäße halten Wasser besonders gut? Und wie verhindert man, dass übellaunige Matrosen ihren Unmut an der Lebendfracht auslassen? Solchen und ähnlichen Fragen mussten sich die frühen Aquaristen stellen, wenn sie ihre Aquarien mit Tieren und Pflanzen füllen und diese am Leben halten wollten.

Die Lösungsstrategien für solche Widerstände verfolgt Mareike Vennen detailliert und oft unterhaltsam, wenn sie dem auf ihrer Dissertation beruhenden Buch "Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910)" die Entstehung der Aquaristik in England im 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht. Dabei hat sie nicht nur ein Auge für die Wissenschaftler, sondern auch für die Materialität der Aquarien und die beteiligten "invisible technicians" [1], die Glaser und Schreiner, Postbeamten und andere Nebenakteure. Den Blick auch auf diese Randgruppen zu werfen und dabei auf, sonst wenig behandelte, amateurwissenschaftliche Praktiken, etwa des Sammelns, einzugehen ist eine der Stärken dieses Buches, das sich als eine "Benutzungsgeschichte" (10) der Aquarien begreift, die medien-, wissenschafts-, und kulturwissenschaftliche Ansätze kombiniert, aber auch eine Professionalisierungsgeschichte der Aquaristik erzählt.

So sieht die Autorin das Aquarium nicht nur als bürgerliches Zierobjekt, sondern als "epistemisches Objekt ersten Ranges", in dem sich die "naturkundlichen Wissenswelten des 19. Jahrhunderts" (9) verdichteten, und begreift es als "mediale(s) Dispositiv(e) der Wissensproduktion" (11). Wie sie hier das Modell des Dispositivs, das später nicht mehr prominent auftritt, verwendet, bleibt leider unklar. Dies wäre, gerade bei so einem Begriff, an solch zentraler Stelle des Buchs ebenso interessant gewesen, wie zu erfahren, welchen analytischen Mehrwert das Konzept bieten soll.

Der Aufbau folgt keiner einfachen Chronologie, sondern orientiert sich elegant an verschiedenen Praktiken (etwa Aneignen, Stabilisieren). Diese werden im ersten Teil des Buches für die amateurwissenschaftlichen Heimaquarien um 1850 durchexerziert. Im zweiten, der die zunehmend professionalisierte Aquaristik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts behandelt, werden sie ein weiteres Mal durchschritten. Dabei zeigt Vennen die Kernpraktiken der Aquaristik vor allem anhand von Widerständen. Diese rückt sie als methodischen Ansatzpunkt ins Zentrum ihres Buches. Eingetrübtes Wasser, verschlammte Aquarien, berstende Glasscheiben und nicht zuletzt tote Tiere waren als Störfälle immer wieder produktive Auslöser und "wichtiges Moment der Wissensproduktion" (20).

Nach einem einleitenden Abschnitt über den Wardian Case, eine Art Zimmergewächshaus bzw. Transportvorrichtung für Pflanzen, den Vennen als ein Aquarium avant la lettre präsentiert, rückt Teil I das "balanced aquarium" des englischen Chemikers Robert Warington ins Zentrum der Untersuchung. Das "balanced aquarium" schuf eine "zentrale Wissensfigur der Aquaristik" (71): Selbstregulierung. Die richtige Kombination aus Pflanzen, Sand und Tieren sollte einen sich selbst erhaltenden Kreislauf schaffen, und war damit "Instrument biologisch-chemischer Forschung [und] zugleich Sinnbild einer göttlichen Einrichtung der Natur" (78).

Eng verbunden waren mit diesen frühen Aquarien die "practical naturalists", die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen, die heimische Tier- und Pflanzenwelt zu erforschen und dabei zu Zulieferern der Aquaristen wurden, die sie mit Lebewesen von der Küste versorgten. Damit einher gingen neue Probleme, Mittel und Wege zu finden, die Tiere von der Küste in ein Londoner Aquarium zu bringen. Neben improvisierten Transportmöglichkeiten (umgebaute Biscuitdosen) entstanden Ratgeber und ein ganzes Transportwissen. Hier bietet Vennen einen gleichermaßen wichtigen wie unterhaltsamen Einblick in die praktischen und materiellen Aspekte der (Amateur-)Wissenschaft, die leider in vielen (Wissenschafts-)historischen Untersuchungen nach wie vor meist zu kurz kommt.

Neue Aquarienbewohner gingen aber mit der steten Sorge einher, das Gleichgewicht durch die Umbauarbeit zu stören und zu ruinieren. Das Aquarium befand sich in einer Dialektik von Störfällen und Nachbesserungen. Doch trotz permanenter Arbeit daran, wurde es nicht als künstliches, technisches Ding gesehen, sondern vielmehr die dazugehörenden Techniken naturalisiert und so basiere seine Naturordnung "auf dem Paradox, dass gerade durch Medientechniken und diskursive Strategien das Natürliche dieser Natur hergestellt und zugleich repräsentiert werden konnte" (103).

Um nachbessern zu können, war nicht nur ein Wissen über einzelne Tiere, sondern eines um die Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen und deren Umwelt nötig. Aquarien führten somit von taxonomischen hin zu biologisch-ökologischen Untersuchungen. Dabei grenzten sich Aquaristen scharf von anderen Meeresforschern ab, die nur am toten, präparierten Tier arbeiteten. Mareike Vennen sieht diese damit "im Zentrum eines Aushandlungsprozesses unterschiedlicher Wissenskulturen" (109) und die Aquaristik als "Produkt und Motor eines größeren Umbruchs der Naturgeschichte, der maßgeblich mit der Frage nach dem Ort der Wissensproduktion zusammenhing" (117). Das Aquarium selbst sei dabei zu einer "technische(n) Vorrichtung" (165) wie das Mikroskop geworden.

Einen weiteren Aspekt des Arbeitens mit submarinen Lebewesen zeigt die Autorin anhand der Abbildung der Tiere und daran, diese Bilder zirkulieren zu lassen. Im Kapitel "Ins Bild Bannen" zeichnet sie nicht nur die Veränderungen in der Darstellung - anstatt eines isolierten Tieres wird dieses nun in seiner Umwelt gezeigt - und die damit einhergehenden neuen Sehgewohnheiten nach, sondern auch, wie das entstehende Postwesen zum Kreislauf der Drucke beitrug.

Der zweite Teil ist gleich dem ersten aufgebaut, was nicht ohne gewisse Wiederholungen einhergeht: erneut werden Lebewesen transportiert - nun über die Weltmeere -, erneut werden Aquarien abgebildet - nun in Fotografien - und der Schlamm tritt nun als "epistemisches Objekt" (321) auf. Und auch neue Widerstände gibt es, die beseitigt werden (müssen): der Anschluss der Aquarien an das Wassernetz, stabileres Glas für große öffentliche Schauaquarien, zu dunkle Fotografien und riskante Lebendsendungen. Aus diesen Widerständen entstanden abermals neue Praktiken und neues Wissen.

Aber trotz einer gewissen, kaum vermeidbaren, Redundanz bringt auch Teil II Neues. Etwa die Veränderung des Wohnraums durch die Aquarien - wie versteckt man Zuleitungen, wie wirkt das Raumklima - oder deren Einbindung in den öffentlichen Raum und seine Infrastrukturen.

Das gut geschriebene, oft amüsante Buch unterhält mit Anekdoten und bietet einen lesenswerten Beitrag zu einem wenig beachteten Feld der Wissenschaftsgeschichte; auch wenn es bisweilen, medienwissenschaftlich bedingt, etwas zur Überinterpretation neigt: mit dem geborstenen Aquarium löst sich eine "symbolische Ordnung" (197) auf und das Aquarium etabliert ein "Machtverhältnis" sowie eine "hierarchisch organisierte Schau- und Wissens(an)ordnung" (198) zwischen Mensch und Tier. Der Historiker hätte sich zwar ein wenig mehr Kontext ebenso gewünscht wie konsequentere Verfolgung mancher Ideen und Konzepte hier und da, liest das Buch aber insgesamt mit großem Gewinn.


Anmerkung:

[1] Steven Shapin: The invisible technician, in: American Scientist 77/6 (1989), 554-563.

Magnus Altschäfl