Rezension über:

Meike Haunschild: "Elend im Wunderland". Armutsvorstellungen und Soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975, Marburg: Tectum 2018, IX + 506 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8288-4067-6, EUR 88,00
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Rezension von:
Katharina Täufert
Bochum / Potsdam
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Katharina Täufert: Rezension von: Meike Haunschild: "Elend im Wunderland". Armutsvorstellungen und Soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975, Marburg: Tectum 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/04/32486.html


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Meike Haunschild: "Elend im Wunderland"

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Wie forscht man über Armut in einer Zeit, in der das Phänomen kaum öffentlich behandelt wurde? Das existenzbedrohende Massenelend der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und auch die ab Mitte der 1970er-Jahre im Zuge von wirtschaftlicher Rezession und Massenarbeitslosigkeit wahrnehmbare Armut in der Bundesrepublik sind plausible Untersuchungsgegenstände der (historischen) Forschung. Aber die Zeit dazwischen - gern umschrieben mit dem Begriff Wirtschaftswunder - liegt als Untersuchungsgegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit über Armut in Deutschland auf den ersten Blick nicht sonderlich nah.

Dennoch, so Meike Haunschild in ihrer 2017 an der Universität Freiburg angenommenen Dissertation, finden sich auch zwischen der Großen Rentenreform von 1957 als "letzte große Armutsdebatte" (1) bis hin zum Wiederaufkeimen der öffentlichen Auseinandersetzung durch die 1975 von Heiner Geißler postulierte Neue Soziale Frage "zu jeder Zeit Berichte über Armut und Bedürftigkeit in der Bundesrepublik" (3). Damit modifiziert sie die vor allem in den Sozialwissenschaften populäre Annahme, das Thema Armut sei zu dieser Zeit gänzlich aus den öffentlichen Debatten verschwunden. Zwar werde der Begriff Armut kaum dezidiert genannt, dennoch lassen sich vielfältige Auseinandersetzungen rund um die Wahrnehmung von Armutsphänomenen mit zeitgenössischen "Umschreibungen wie 'Notlage', 'Hilfsbedürftigkeit' und 'Randständigkeit'" (467) finden. Armut war auch während der wirtschaftlichen Prosperität der "langen 1960er-Jahre" [1] ein gesellschaftliches Problem, das nicht mehr länger eindimensional auf die Folgen des verlorenen Krieges zurückgeführt werden konnte, sondern erklärungsbedürftig war.

Über diesen Umweg, nicht explizit nach Armut zu fragen, sondern Facetten des Sprechens über soziale Ungleichheit, ihre Aushandlungsprozesse und Darstellungsformen in den Blick zu nehmen, gelingt es der Autorin, ein umfangreiches und gut recherchiertes Bild über die unterschiedlichen Armutsvorstellungen in Zeiten des Ausbaus des Sozialstaats im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit zu zeichnen. Dabei vertritt die im Rahmen des Freiburger DFG-Projekts "Armut in Deutschland 1950-1990" [2] entstandene Studie die These, dass sich die Debatte seinerzeit weg von den materiellen Aspekten der Armut hin zu Fragen fehlender Teilhabemöglichkeiten bestimmter Gesellschaftsgruppen verschoben hat. Damit einher ging auch eine Professionalisierung derer, die im Bereich der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit tätig waren.

Das Buch ist thematisch in drei Teile gegliedert, die in sich chronologisch aufgebaut sind. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem politisch-öffentlichen Armutsdiskurs vor dem Hintergrund konkreter Sozialpolitik, welche die Aushandlung von gesellschaftlich akzeptierten und nicht akzeptierten Formen sozialer Ungleichheit sowie Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abbildet. Der zweite Teil hebt ab auf die Professionalisierung der Wohlfahrtspflege durch die Nachzeichnung des Wandels der ihr zugrunde liegenden Leitbilder und die Erarbeitung wissenschaftlicher Standards für die Soziale Arbeit. Der "Anspruch, nicht mehr nur Nothilfe zu betreiben [...] [,] setzte mit dem Ausbau von Beratungsangeboten und ambulanten Einrichtungen verstärkt auf das Prinzip der Vorsorge" (469) und ging mit der Ausprägung von Dienstleistungsstrukturen einher. In diesem Zuge wurden auch standardisierte Ausbildungsnormen im Bereich der Armenfürsorge notwendig. Gleichzeitig versachlichte sich damit die Debatte; der Blick auf Armut wurde "'nüchterner', formalisierter und säkularer" (470). Im letzten Abschnitt werden die veränderten Armutsvorstellungen von Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit, auch unter dem Eindruck der "68er-Bewegung", gegenübergestellt.

Methodisch knüpft die Studie von Meike Haunschild an vier Stränge an: Mit Michel Foucault analysiert sie die Deutungsmacht diskursiver Praktiken. Über vergleichende Textanalyse erforscht die Verfasserin die Grundlagen des zeitgenössischen Wissens über Armut vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Daten in Form von statistischen Jahrbüchern und Aufstellungen. Zudem bezieht sie die Interpretation bildlicher Armutsdarstellungen und ihrer Ritualisierungen in die Analyse ein. Mittels eines akteursbezogenen Ansatzes setzt sich Meike Haunschild mit den professionell in der Fürsorge und Sozialhilfe Beschäftigten auseinander. So gelingt es ihr, "den bundesdeutschen Armutsdiskurs trotz fehlender Begrifflichkeit nachzuzeichnen" (473). Dabei wählt sie die katholisch ausgerichtete, eher als konservativ zu verortende Caritas sowie die sozialdemokratisch orientierte und eher progressiv eingestellte Arbeiterwohlfahrt als zentrale Akteure aus. Mit ihren entgegengesetzten Selbstverständnissen aus christlicher Nächstenliebe versus solidarischem Gemeinwohl bildeten sie die "Pole" (11) innerhalb der Wohlfahrtspflege. Diese Dichotomie ergänzt die Autorin punktuell um den Deutschen Städtetag "als die dominierende Kommunalvertretung in der Bundesrepublik" (12), etwa bei der finanziellen Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme.

Meike Haunschild arbeitet mit ihrer Studie "Armutssemantiken und -konstrukte der zeitgenössischen Äußerungen zur Armutsfrage" (7) heraus, denn die öffentlichen Diskurse trugen maßgeblich dazu bei, welche Erscheinungsformen von Armut als solche anerkannt wurden (und welche nicht). Dies entschied auch darüber, welchen Personenkreisen soziale Unterstützungsleistungen zugestanden wurden (und welchen nicht). Damit weist die Verfasserin nach, dass bereits in den 1950er und 1960er-Jahren die Sozialpolitik hin zu einer umfassenden Gesellschaftspolitik ausgerichtet wurde, ehe man sie ab den 1970er-Jahren generell neu justierte. Man bestimmte Armut, die stets "auch in Abgrenzung zu oder in Verbindung mit anderen sozialen Problemlagen, wie demografischem Wandel, Arbeitsunfähigkeit oder Obdachlosigkeit, verhandelt wurde" (5), in dieser Zeit ganz neu. Der Armutsbegriff wurde infolge der Loslösung tradierter Wertvorstellungen mehrdimensional erweitert, soziale Rechte wurden gesellschaftlich verankert. Neue Regelungen lösten traditionelle Armutsbilder ab, beispielsweise mit dem festgeschriebenen Anspruch auf staatliche Fürsorge in Form eines einheitlichen Sozialhilferechts durch das Bundessozialhilfegesetz von 1961. Dennoch ging dies nicht mit dem Aufbau einer Gesellschaft einher, die allen Menschen die gleichen Aufstiegschancen ermöglichte. Im Gegenteil wurde Armut damals als individuelles Schicksal verstanden und von sozialer Ausgrenzung begleitet.

Axel Schildt wies bereits auf das Forschungsdesiderat einer Sozialgeschichte der Armut im Wirtschaftswunder hin [3]. Meike Haunschild gelingt es, diese Lücke mit ihrer gut geschriebenen und auf einem umfangreichen Quellenkorpus basierenden Studie zumindest für einen bedeutsamen Aspekt zu schließen: die Wahrnehmungsgeschichte von Armutsphänomenen. Damit leistet sie einen entscheidenden Beitrag zum Gesamtbild der Armutsgeschichte in der Bundesrepublik.


Anmerkungen:

[1] Detlef Siegfried: "Trau keinem über 30"? Konsens und Konflikt der Generationen in der Bundesrepublik der langen sechziger Jahre, in: APuZ 53 (2003), 25-32, hier 25.

[2] Vgl. die Projektbeschreibung auf: http://www.armutsprojekt.uni-freiburg.de/ (letzter Aufruf: 28.02.2019).

[3] Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90 ( = Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 80), München 2007, hier 98.

Katharina Täufert