Rezension über:

Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er-Jahren (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968; Bd. 8), Berlin: Ch. Links Verlag 2018, 671 S., 4 s/w-Abb., 3 Tabl., ISBN 978-3-96289-005-6, EUR 50,00
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Rezension von:
Heiner Möllers
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Heiner Möllers: Rezension von: Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er-Jahren, Berlin: Ch. Links Verlag 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 1 [15.01.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/01/31648.html


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Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise

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Der Bundesnachrichtendienst (BND) war bis vor wenigen Jahren eine Black Box. Um seine Entstehung und seine Arbeit rankten sich Gerüchte, die auch durch vielfältige Literatur nicht erhellt wurden. Die Mitarbeiter des westdeutschen Auslandsgeheimdienstes wirkten an dieser Legendenbildung mit, nicht zuletzt der erste BND-Chef, Reinhard Gehlen [1]. Der ehemalige Generalmajor der Wehrmacht und Chef der Abteilung "Fremde Heere Ost" im Generalstab des Heeres hatte es gegen Kriegsende geschafft, scheinbar wichtige Unterlagen beiseite zu schaffen, bevor er seines Dienstpostens enthoben wurde. Das war der Beginn seiner Legende. Nach dem Krieg diente er sich dem ehemaligen Kriegsgegner USA an und konnte seine von den Vereinigten Staaten finanzierte "Organisation Gehlen" aufbauen. Seit dem 1. April 1956 ist der aus der "Org Gehlen" entstandene Bundesnachrichtendienst eine Bundesoberbehörde unter der formalen Aufsicht und teilweisen Kontrolle des Bundeskanzleramtes.

Jost Dülffer widmet sich im vorliegenden Buch aus der Reihe der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968 den spannenden 1960er Jahren - "dynamische Zeiten" (Axel Schildt), in denen die Bundesrepublik Deutschland einen beschleunigten gesellschaftlichen und politischen Wandel erfuhr. In den Mittelpunkt stellt er dabei seine Leitfragen nach der Ein- und Unterordnung in den Regierungsapparat, nach dem Anspruch des BND auf gesamtgesellschaftliche Mitsprache sowie nach dem Bemühen des Dienstes zur Informationsbeschaffung und -vermittlung im medialen und politischen Raum, nicht zuletzt, um seine Stellung zu festigen (23f.).

Dülffer greift damit drei Grundparameter der Existenz des BND in der westdeutschen Gesellschaft und Politik auf: Ein Geheimdienst arbeitet prinzipiell geheim und sollte (möglicherweise) nicht öffentlich hervortreten. Das setzt eine starke politische Kontrolle voraus, damit er sich nicht zum Selbstzweck und zur unkontrollierbaren Maschinerie entwickelt. Vor allem aber ist es nicht vorrangige Aufgabe eines (Auslands-)Geheimdienstes, in die (sich zunehmend von Bevormundungen befreiende westdeutsche) Gesellschaft hineinzuwirken und sie zu beeinflussen. Diese Fragestellung wirkt ein wenig provokant und doch selbstverständlich und naheliegend, denn was war der BND bzw. was wollte er in seinen frühen Jahren sein?

Ohne das Werk in allen Kapiteln zu sezieren, sind zwei Untersuchungsgegenstände besonders spannend:

Der BND war zeitlebens eine dem Bundeskanzleramt nachgeordnete Bundesoberbehörde. Damit unterlag er vor allem der dienstlichen und politischen Kontrolle des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt und seines Apparates, vor allem aber auch dessen Haushaltsvorgaben. Gehlens Bestreben war es indes, zu einer Behörde mit Ministeriumsrang aufzusteigen, um so mehr politische Handlungsspielräume zu gewinnen und möglicherweise auch fiskalisch unabhängig zu werden.

Diesem Bestreben stand die Skepsis der mit dem BND befassten Mitarbeiter des Kanzleramtes im Wege. Sie entdeckten immer wieder Eigenmächtigkeiten bei den selbst auferlegten Aufgaben und bemängelten über lange Zeit die Effizienz des Geheimdienstes, wobei sich die Frage stellt, wie man eine solche eigentlich bemessen will. Hinzu kam, dass Gehlen hinsichtlich des bei ihm eingesetzten Personals gar freizügig agierte, aus dem BND beinahe einen Familienbetrieb machte. Nicht wenige BND-Mitarbeiter waren ehemalige Offiziere der Wehrmacht oder der jungen Bundeswehr, die teilweise nach der Entlassung aus dem aktiven Dienst als zivile Arbeitsnehmer (sicher mit guter Bezahlung) weitermachten. Faktisch entwickelte der BND, richtigerweise: sein Chef Gehlen, ein Eigenleben, das so gar nicht politisch zu kontrollieren war - weil er sich jeder Form politischer oder beamtenrechtlicher Kontrolle entgegenstellte oder sie unterlief. Signifikant wurde dies vor allem 1961/62 anhand der aus dem ehemaligen Sicherheitsdienst der SS stammenden Mitarbeiter, da zum einen deren Existenz im Bundesamt für Verfassungsschutz zum öffentlichen Skandal wurde und auch für den BND entsprechende Fragen aufwarf, zum anderen anhand des Falls Felfe: Ausgerechnet der bisherige Leiter der Gegenspionage, Heinz Felfe, wurde als KGB-Spion enttarnt und verurteilt. Hier setzt die von Dülffer beschriebene erste Krise des BND ein, weil selbst Konrad Adenauer mehr als argwöhnisch gegen Gehlen wurde. Das aus dem Problem Gehlen heraus erkannte Strukturproblem des BND versuchte der Kanzler durch eine stärkere Einbindung der Parlamentarier anfänglich nur aus den Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP zu lösen, indes ohne durchschlagenden Erfolg.

Die Pensionierung Gehlens - Nachfolger wurde Generalleutnant Gerd Wessel - und das Intervenieren des neuen Staatssekretärs im Bundeskanzleramt, Karl Carstens, schien ab 1968 eine neue Zeitrechnung für den BND einzuläuten. Carstens wirkte als personifiziertes Kontrollorgan des BND gut vorbereitet, da er als Staatssekretär im Auswärtigen Amt und danach im Verteidigungsministerium mit dem BND zu tun gehabt hatte. Die in seiner Zeit eingesetzte Mercker-Kommission wie auch die Analyse der Zuständigkeiten für den BND im Kanzleramt konnten das Eigenleben des BND aber erst langfristig unter Kontrolle bringen. Dabei hatte 1962 bereits der Bundesrechnungshof Klagen über die Haushaltsführung des Dienstes erhoben, mangels Insiderwissen aber nicht qualifiziert untermauern können. Einmal mehr ließ Gehlen die Kritik ins Leere laufen. Er musste erst gehen - und das zögerte er noch bis 1968 hinaus -, bevor sich etwas verbessern konnte.

Über die umfassende Beschreibung und Analyse der organisatorischen Fallstricke und Winkelzüge des Dienstes hinaus, mit der dieser - oftmals erfolgreich - jede Einflussnahme der Politik auszuhebeln versuchte, ist Dülffers Arbeit besonders aufschlussreich bei der für Geheimdienste doch nicht selbstverständlichen Medienarbeit. Es erstaunt, dass der BND über lange Jahre herausragend gute Kontakte in die Medienlandschaft aufbaute und besaß - und dass ausgerechnet das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu seinen Top-Multiplikatoren zählte. Bereits seit 1954 (!) nutzte der BND den Spiegel zur Selbstdarstellung. Beinahe folgerichtig war der BND auch in die Spiegel-Affäre involviert. Sein Resident in Hamburg, Oberst Adolf Wicht, war in die Rechercheüberprüfungen des Berichts "Bedingt abwehrbereit" vom Oktober 1962 einbezogen worden. Hier zeigte sich, dass der BND mit doppelten Karten spielte, wenn er einen Mehrwert erkennen wollte. Im Gegenzug sammelte der "Spiegel" alles, was der eigenen Profilierung nutzte, auch um andere Medien zu übertreffen. Dass gerade der "Spiegel" im Kanzleramt höchst argwöhnisch betrachtet und abgelehnt wurde, schien Gehlen bei seinem Handeln nicht zu stören. Es war ein Geben und Nehmen zwischen Nachrichtenmagazin und Nachrichtendienst - unklar blieb jedoch, wer den größeren Nutzen daraus zog, oder ob sich für den BND überhaupt etwas Nutzbares daraus ergab. Tatsächlich aber dürften die Mitarbeiter des BND kaum oder gar nicht Geheimes verraten haben.

Insgesamt erscheint bei Dülffer die Spiegel-Informationsbeschaffung zum Artikel, der die Affäre auslöste, in neuem Licht: Neue Akteure (u.a. Annemarie Renger) lieferten Grundinformationen, der BND prüfte intensiv, auch um beim Nachrichtenmagazin "eine neue Qualität der Zusammenarbeit" zu begründen (599), und letztlich erschien ein Beitrag, der zwar - wie sich im Zuge der Ermittlungen herausstellte - nichts Geheimes enthielt, aber doch zur Skandalisierung gegen Verteidigungsminister Strauß genügte, weil der sich darauf einließ. Dieses Beispiel steht scheinbar pars pro toto für die Medienarbeit des BND, der mit solchen Partnern auch im Sinne einer antikommunistischen Propaganda auf die westdeutsche Gesellschaft einzuwirken versuchte. Tatsächlich aber - und auch das wird in Dülffers Studie deutlich - verzettelte er sich, wenn man ihn als Auslandsnachrichtendienst verstehen wollte. Wozu war der Dienst damals eigentlich da? Diese Frage stellte sich der Rezensent bei der Lektüre des Buches mehrfach.

Jost Dülffer hat eine detaillierte Organisations- und Mentalitätsgeschichte der von Gehlen maßgeblich aufgebauten Behörde vorgelegt. Ohne auf wissenschaftliche Akribie zu verzichten, handelt es sich um ein gut lesbares Buch. Es macht die Geschichte des BND - anders, als Gehlen sie selbst sehen wollte - in ihren inneren Widersprüchen gut nachvollziehbar. Keine der mehr als 600 Seiten ist zu viel! Bedenklich stimmt nach der Lektüre aber folgende Erkenntnis: Offensichtlich galt für den BND lange Zeit und vor allem in der Amtszeit des faktischen Selbstdarstellers Gehlen "mehr Schein als Sein" [2] - sein "Kartenhaus" (622) brach nach seinem Abgang in sich zusammen und Wessel musste den "Augiasstall" ausmisten (642).


Anmerkungen:

[1] Zu Gehlen vgl. Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biographie, Berlin: Christoph Links Verlag 2017, rezensiert von Armin Wagner in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], http://www.sehepunkte.de/2018/09/31212.html

[2] So Anselm Doering-Manteuffel in seiner Rezension zu Dülffers Band in der FAZ vom 1.10.2018.

Heiner Möllers