Rezension über:

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie, Stuttgart: Theiss 2017, 1160 S., 40 Farbabb., 27 Kt., 8 Tbl., ISBN 978-3-8062-3628-6, EUR 49,95
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Rezension von:
Axel Gotthard
Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Axel Gotthard: Rezension von: Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie, Stuttgart: Theiss 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31175.html


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Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg

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Mitten im Kriegsgetümmel hat das 2009 vorgelegte, nun ins Deutsche übersetzte Buch von Wilson seine Stärken: seitenlange detaillierte Schlachtenschilderungen, Skizzen veranschaulichen Strategie und Taktik; von Militärgeschichte versteht der britische Autor wirklich etwas.

Ehe die erste große Schlacht des Dreißigjährigen Krieges, vor den Toren Prags, geschlagen ist, hat der Leser freilich Seite 387 erreicht. Wird er also besonders gründlich über die Kriegsursachen aufgeklärt? Jein. Zwar ist schon sehr wortreich von Ereignissen vor 1618 die Rede. Aber nicht eigentlich von der Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges. Oft weit in spätmittelalterliche Jahrhunderte ausgreifend, bietet Wilson in tausend Verästelungen Geschichten diverser europäischer Länder, die für ein britisches Publikum exotisch sein mögen. Die ethnologische Expedition in Mitteleuropas Urwälder fördert so erstaunliche Phänomene wie Kurfürsten oder Vogteien zutage, der "Koloss" (29) namens Reich habe es gar nicht zu einer richtigen Hauptstadt gebracht, aber viele kleine Städtchen hätten wunderschöne Rathäuser. Für ein britisches Publikum war das sicher angemessen und instruktiv.

An den Dreißigjährigen Krieg ging der Autor mit einer Vorannahme heran, die er dem Leser auch gleich mitteilt: Es handle sich nicht zuvörderst um einen Religionskrieg. Im Pro und Contra diskutiert, sodann begründet wird diese axiomatische Vorabbehauptung auf tausend Seiten freilich nicht. Wilson will einfach alles, was irgend religiös anmuten könnte, erst gar nicht an sich heranlassen. Kommen konfessionelle Antriebe doch einmal vor, weil sie das Handeln eines Akteurs unübersehbar motiviert haben, urteilt Wilson hart: Der Frömmler sei (diese Adjektive begegnen im Dutzend) "militant" oder "radikal" oder beides. Ja, solche bedauerlichen Exzesse habe es gegeben. Aber ein anständiger Mensch verhalte sich anders. Nur ein Beispiel für sehr viele: In Donauwörth "zettelten militante Protestanten" vor 1608 "Ausschreitungen" an, weshalb sich der gute Bayernherzog der armen Donauwörther annehmen musste. Sie waren das Opfer - nein, nicht etwa einer bayerischen Okkupation, sondern von "radikalprotestantischen Agitatoren" (289). Gern ruft Wilson so unheilig fromme Akteure aus seiner säkularen Gegenwart zur Räson. Wieder nur ein Beispiel: Die Fensterstürzer seien einfach unfähig gewesen, "das volle Potenzial ihrer Revolte zu entfalten. Dieses Potenzial hätte in einer gemeinsamen politischen Kultur gelegen - und nicht in der Religion" (393). Wie unverständig doch manche vormoderne Menschen sein konnten!

Vormoderne Frömmigkeit ist also entweder ein Charakterfehler; oder sie riecht nach Calvinismus. Wilson verabscheut ihn ("kurpfälzische Militanz", "kurpfälzische Agitation" usw., in hier nicht belegbarer Fülle; "kriegslüstern" (296); "paranoide Fantasiewelt des Heidelberger Hofes" (321); "eifernder Millenarismus" (336); "der calvinistische Millenarismus", dieser "Unsinn" (830)). Wie konnte sich die Union nur mit solchen militanten Wirrköpfen gemein machen? Wilson verzeiht ihr das nicht, er mag die Auhausener einfach nicht, so wenig wie die "Militanten des Heilbronner Bundes" (653). Aber dieser Autor bezweifelt sogar, gegen jegliche Evidenz in vormodernen Lebensaufzeichnungen, "dass die Religion den Menschen bei der [sc. mentalen] Bewältigung des Konflikts geholfen habe" (964).

Deutschlands Konfessionelles Zeitalter kann nicht deutlich ins Bild rücken, wer den Augsburger Religionsfrieden nicht scharf im Blick hat. Wilson hat leider fast alle seine Bestimmungen überhaupt nicht verstanden. Nehmen wir uns nur einmal den Anfang der einschlägigen Passage (64-68) vor! Sie beginnt mit dieser erstaunlichen Behauptung: Es "bemühten sich die Friedensstifter von 1555 nach Kräften, alle religiösen Unterscheidungen zu verwischen". Es folgt die fast so erstaunliche Feststellung, "im Gegensatz zu dem später entstandenen Eindruck" habe der Religionsfrieden keinesfalls sagen wollen, "dass die Landesherren völlig frei zwischen den beiden Bekenntnissen wählen konnten". Vielmehr habe der Augsburger Text "die Situation der Jahrhundertmitte verbindlich festschreiben" wollen: was für eine Verkennung seines dynamischen Charakters! Bei Wilson "bewahrte" der Geistliche Vorbehalt "den rein katholischen Charakter der Reichskirche"; das hat er bekanntlich nicht getan, nach 1555 wurden zahlreiche Hochstifte zumal Norddeutschlands evangelisch. "Der Reichsritterschaft blieb das ius reformandi verwehrt"? Das war stets strittig, Deutschlands Protestanten und alle Reichsritter haben es anders gesehen. Die bikonfessionellen unter den Reichsstädten waren keinesfalls "paritätisch", das werden sie erst ab 1648 sein. "Die Aufnahme eines Emigrationsrechts (ius emigrandi) stellte einen weiteren säkularen Eingriff dar, durch den das Reformationsrecht der Landesfürsten beschnitten wurde"? Nein, es wurde dadurch praktikabel: ein systemstabilisierendes Ventil. Auffällig werdende Störenfriede hatten eben zu gehen. Im Augsburger Religionsfrieden erstreckt sich Regierungsgewalt bereits über eine Fläche, nicht mehr über einen Personenverband, er bezeugt die voranschreitende Territorialisierung von Herrschaft. Man könnte fortfahren, doch blenden wir uns an dieser Stelle aus!

Wilson hat ein bewundernswertes Lesepensum in (auch älterer) deutschsprachiger Literatur absolviert, aber er kennt, natürlich, nicht die Archivalien. Deshalb kennt er auch nicht das in Unions- wie in Ligaakten stupende Bedrohungsgefühl schon der Dekade vor 1618. Vielmehr sind alle Akteure munter und voller Optimismus mit den für Wilson offenbar zeitüblichen Machtspielchen beschäftigt, lustvoll spinnen sie irgendwelche "dynastische" Intrigen, "dazu benutzten sie nicht selten die Religion als Vorwand" (267). Bei diesem Autor fällt der Krieg wirklich aus heiterem Himmel. Wie ihm das Reich verfallen konnte, versteht Wilsons Leser nicht. Ob es der Autor verstanden hat?

Auf vielen Ungenauigkeiten (wie ominösen "Fürstentagen", wenn sich das Kurkolleg traf) herumzureiten, ersparen wir uns, zumal man in jedem Fall prüfen müsste, was das englischsprachige Original sagt. Dass "kein einziger" Bayernherzog vor Maximilian nach der pfälzischen Kur geschielt habe (260), ist sicher falsch, die alte Rechnung war in München nie vergessen, beispielsweise zur Zeit Ottheinrichs hatte es auch entsprechende diplomatische Sondierungen gegeben. Den wichtigen Kurfürstentag von 1630 berief der Kurmainzer ein (anders 548), und von einer "habsburgischen Erbfolge" (550) im Reich sollte man tunlichst auch nicht reden. Ferdinand (IV.) wurde, natürlich, nicht "auf dem Reichstag von 1653/54" gewählt (886)! Reichsoberhaupt wurde man weder per Erbfolge noch am Reichstag.

Was ist im Großen und Ganzen zu sagen? Gerade beim Vergleich mit dem anderen derzeit beworbenen Riesenwerk zum Dreißigjährigen Krieg, aus der Hand des Politologen Herfried Münkler, fällt auf, wie wenig der Militärexperte Wilson in den damaligen Politikbetrieb und insbesondere in den mentalen Haushalt des Konfessionellen Zeitalters hineingefunden hat. Der Politologe sucht Lehren für die Gegenwart, belehrt aber nicht vormoderne Menschen. Die nimmt er, wie er sie vorfindet, und er betont zu Recht immer wieder die "Schlüsselrolle" der Konfession. Die 'großen Linien' stimmen bei Münkler, sein Buch hat Anregungspotential. Bei der Wilson-Lektüre sollte man sich auf Militärgeschichtliches im engen Wortsinn konzentrieren. Militaria-Fans kommen bei diesem Autor auf ihre Kosten.

Axel Gotthard