Rezension über:

Meike Wulf: Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia, New York / Oxford: Berghahn Books 2016, X + 246 S., ISBN 978-1-78533-073-5, GBP 64,00
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Rezension von:
Lars Fredrik Stöcker
Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Lars Fredrik Stöcker: Rezension von: Meike Wulf: Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia, New York / Oxford: Berghahn Books 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/31662.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Meike Wulf: Shadowlands

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Die Neuzeithistorikerin Meike Wulf begibt sich in ihrer Monografie, deren Titel bewusst an Timothy Snyders "Bloodlands" anknüpft, auf die Suche nach dem Einfluss der kollektiven Erinnerung an Terror, Krieg und Okkupation auf das nationale Geschichtsnarrativ im postsowjetischen Estland. In ihrem "Handbuch" für den westlichen Leser (176) steht der estnische Fall stellvertretend für die Komplexität osteuropäischer Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und die Widersprüche zwischen offiziell propagierten Geschichtsbildern und erfahrener Historie in der Nachkriegszeit. "Shadowlands" führt den Leser durch Erinnerungslandschaften, geprägt von Topoi kollektiven Leids und Widerstands sowie kollektiver Tabus, deren "subversives Potenzial" (15) sich entfaltete, als das Fundament der Sowjetherrschaft zu bröckeln begann. Nach Jahrzehnten ideologisch verbrämter Geschichtsklitterung drängte eine Gegenerinnerung an die Oberfläche, die, verklärt als soziales Gedächtnis einer unterdrückten Nation, den Grundstein für ein neues Geschichtsnarrativ legte.

"Shadowlands" lotet die Komplexität nationaler Geschichtsdiskurse im Spannungsfeld konkurrierender soziokultureller Narrative mithilfe autobiografischer Erzählungen aus, fokussiert dabei allerdings weniger auf ethnisch-kulturelle Bruchlinien als auf generationsspezifische Unterschiede zwischen sozialen Gedächtnisgemeinschaften. Aufbauend auf Aleida Assmanns Definition des sozialen Gedächtnisses als Erinnerungsprofil einer Gesellschaft, das sich mit jedem Generationswechsel verschiebt, untersucht Wulf vier Alterskohorten, die von unterschiedlichen historischen Erfahrungen geprägt wurden: dem Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegsära, der Systemtransformation und der postsowjetischen Gegenwart. Im Mittelpunkt der Studie stehen 40 Interviews, die Wulf Anfang des Jahrtausends im Rahmen der Forschungen für ihre Dissertation, auf der das Buch basiert, mit estnischen Historikern führte. Der Fokus auf die historische Zunft ist nicht zufällig gewählt, spielten doch Historiker als "Hüter der Erinnerung" (4) eine tragende politische Rolle während der Singenden Revolution und darüber hinaus. Ein Einblick in die Reminiszenzen und Reflexionen der Architekten des postsowjetischen historischen Narrativs soll Aufschluss geben über die "Bauelemente" kollektiver kultureller Identitäten (105). Den Informanten, unter denen sich Historiker estnischer und russischer Abstammung, aber auch solche mit Exilhintergrund finden, kommt eine doppelte Rolle zu. Zum einen gewähren sie Einblicke in subjektive Erinnerungslandschaften, zum anderen beleuchtet ihr analytischer Blick auf Prozesse historischer Aufarbeitung und Umdeutung zentrale Dilemmata der nationalen Identitätsbildung in einer Post-Konfliktgesellschaft.

Mit ihrer Studie über den Einfluss des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses auf die nationale Identitätsbildung thematisiert Wulf einen zentralen Aspekt der estnischen Transformationserfahrung und liefert einen wichtigen und willkommenen Beitrag zur transdisziplinären Gedächtnisforschung in Estland. Mit ihren Life Story-Interviews knüpft Wulf an eine Tradition an, die in Estland bereits fest etabliert ist, was der Tatsache geschuldet ist, dass sich die "Gegenerinnerung" im sowjetisch besetzten Baltikum hauptsächlich in Form mündlich tradierter Erinnerungen entwickelte und erhielt. Die Autorin lässt den persönlichen Erzählungen ihrer Informanten viel Raum und bettet die Erkenntnisse aus den Interviews geschickt in den historischen Kontext. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild des Lebens im "Schattenland", der Erinnerung an Fremdherrschaft und Gewalt, an Unterordnung und Kollaboration.

Das einführende Kapitel zu den Grundlagen der Erforschung kollektiver Erinnerung und nationaler Identität lässt keinen Zweifel daran, dass Wulf mit der Standardliteratur bestens vertraut ist, ebenso wie mit den Werken von Pionieren der estnischen Gedächtnisforschung wie Ene Kõresaar und Aili Aarelaid-Tart. Dagegen finden sich in der Literaturliste kaum Werke estnischer Historiker. Besonders deutlich wird dies im zweiten Kapitel zur Entstehungsgeschichte des estnischen Nationalbewusstseins. Erwähnung im Endnotenapparat finden Publikationen westlicher Historiker, teilweise mit deutschbaltischem oder exilestnischem Hintergrund, doch Verweise auf die relevante estnische Historiografie fehlen. Generell fällt auf, dass weder Werke der sowjetischen noch der postsowjetischen estnischen Geschichtsschreibung rezipiert werden, was angesichts der postulierten Schlüsselrolle von Historikern für Prozesse nationaler Identitätsbildung irritiert. Man mag der Autorin kaum unterstellen, ihre Interviewpartner als Informanten zu schätzen, jedoch nicht als Forscher auf Augenhöhe zu sehen. Es läge näher anzunehmen, dass Wulf der estnischen Sprache nicht ausreichend mächtig ist, wofür spricht, dass die Interviews entweder auf Deutsch oder Englisch oder mithilfe von Dolmetschern geführt wurden. Trotz der unbestreitbaren Vorteile, die die Position eines unbeteiligten Außenseiters mit sich führt, stellt sich doch die Frage, ob die Antworten der Interviewpartner auf den Fragenkatalog der Autorin anders ausgefallen wären, hätte man sie in ihrer Muttersprache befragt. Angesichts der Tatsache, dass die Interviews die einzigen Primärquellen sind, auf die sich die Studie stützt, drängt sich eine weitere grundlegende Frage auf. Da die Autorin sich auf ein Interview pro Informant beschränkte, ist zweifelhaft, ob sich das für eine tiefgreifende und aufschlussreiche Erörterung kontroverser Sachverhalte wie beispielsweise der Frage nach Kollaboration notwendige Vertrauensverhältnis zwischen den Gesprächspartnern überhaupt entwickeln konnte.

Ungeachtet dieser grundsätzlichen Einwände erreicht "Shadowlands" dennoch sein selbstgesetztes Ziel. Das Buch ist eine elegant geschriebene Synthese estnischer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die souverän mit Ego-Dokumenten operiert und einem breiteren Publikum die Komplexität postsowjetischer Geschichtsnarrative näherbringt. Von Interesse besonders für den informierten Leser ist der kritische Blick auf den Kampf um die Deutungshoheit nationaler Erinnerung. Wulf lässt keinen Zweifel daran, dass sich das Bild des Siegers, der Geschichte schreibt, nicht nur auf die Jahre der Sowjetherrschaft, sondern auch auf das erste Jahrzehnt nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit übertragen lässt. Damit trägt sie zu einem in Estland bereits angestoßenen Diskurs bei, der das heroisierende geschichtsrevisionistische Narrativ kritisch beleuchtet und so die Abwendung von traditioneller Volksgeschichte hin zu einer offener konzipierten Landesgeschichte beschleunigt.

Lars Fredrik Stöcker