Rezension über:

Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2016, 760 S., 949 Abb., ISBN 978-3-8353-1675-1, EUR 39,00
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Rezension von:
Nikolas Werner Jacobs
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Nikolas Werner Jacobs: Rezension von: Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/03/30654.html


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Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter

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Gerhard Pauls Arbeit an seinem Überblickswerk "Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel" wurde durch ein Opus Magnum-Stipendium der VolkswagenStiftung ermöglicht und es ist auch das Opus Magnum des vor allem für seine Studien zu Bildern bekannten Historikers geworden. Das lässt sich nicht allein am Umfang der über 700 Seiten langen Abhandlung festmachen. Es zeigt sich vor allem an der inhaltlichen Fülle, die von zahlreichen früheren Fallstudien des Autors gespeist wird [1], wodurch die Publikation als Summa seiner jahrzehntelangen Forschung zu der von ihm wesentlich geprägten Visual History angesehen werden kann. Diesen Anspruch belegt auch die bereits dem Titel zu entnehmende These des Buches, wonach die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen in der Moderne und Gegenwart wesentlich durch die Ablösung des von der Schrift geprägten Gutenberg-Zeitalters durch das von Bildern geprägte visuelle Zeitalter erklärt werden können.

Diese These versucht Paul in sieben chronologisch geordneten Kapiteln zu stützen, welche die Geschichte der Bilder von der ersten Veröffentlichung einer Fotografie 1839 bis heute nachzeichnen. Jedes Kapitel beginnt mit der Beschreibung eines Schlüsselbilds, an dem der Autor das für die Zeit Exemplarische darlegt. Die Kapitel in sich folgen ebenfalls der Chronologie, wobei diese Systematik durch gattungs- und themenspezifische Unterkapitel aufgebrochen wird. Die Visualität wird dabei auf Grundlage eines weiten Bild- und Medienbegriffes untersucht: Klassische Bildträger wie Gemälde, Fotografien, Plakate, Filme und Presseerzeugnisse werden ebenso berücksichtigt wie die ephemeren, räumlichen und mentalen Bilder von Skulpturen, Architektur, Theater, Menschenansammlungen oder gedanklich generierten Images. Von deren (insbesondere hinsichtlich der technischen Innovationen interessanten) Produktion über die Nutzung und Verbreitung bis hin zur Rezeption und Wirkung wird der gesamte Weg der Bilder in den Blick genommen. Die einzelnen Medien und Gattungen werden nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern der sie verbindende Medientransfer und ihr Zusammenwirken im Medienverbund werden herausgearbeitet, woraus sich ein nachvollziehbares Gesamtbild ergibt.

Wenngleich Paul eine für sein Fach typische Entwicklungsgeschichte geschrieben hat, so reicht seine Quellen- und Literaturauswahl weit über die Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus. Interdisziplinär bindet er auch zahlreiche Erkenntnisse aus der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, den Bild-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, der Wahrnehmungspsychologie, der Soziologie und vieler weiterer Fächer in seine Analysen mit ein. Auch Forschungsfragen, die erst in jüngerer Vergangenheit fachübergreifend an Bedeutung gewonnen haben, berücksichtigt er regelmäßig in seinen Überlegungen und widersteht zugleich der Gefahr, diese aus modischen Gründen zu stark hervorzuheben. Ebenso vielfältig wie die Forschungsperspektiven sind die untersuchten Bereiche, in denen Bilder eine Rolle spielen: Neben der traditionellen Verwendung von Bildern in Kultur, Politik und Wirtschaft beleuchtet der Autor auch deren Weg in scheinbar abgelegeneren Bereichen wie etwa in den (Natur-)Wissenschaften, im Rechtsstaat oder im privaten Alltagsleben. Nicht in jedem Einzelfall möchte man Paul bei seiner Analyse und Deutung der Bildbeispiele folgen, in wenigen Fällen gibt er auch überholte Forschungsstände wieder. Derartige Einwände sind angesichts des Gesamtunterfangens jedoch zu vernachlässigen, da die notwendige Reduktion in der Darstellung zwangsweise zu solchen Befunden führt. Auch so ergibt sich aus all dem ein multiperspektivischer, dem Thema angemessener Blick, ohne dass das verbindende Narrativ oder die Kohärenz darunter leiden würden.

Bereits in der Einleitung verweist Paul darauf, dass "aus rein darstellungspragmatischen Gründen" seine Studie bis auf einige Ausnahmen auf den deutschsprachigen Raum begrenzt bleibt, er jedoch trotzdem "die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als visuellem Zeitalter rekonstruieren möchte" (12). Diesem Anspruch, eine am deutschen Beispiel exemplifizierte, quasi "Weltbildgeschichte" zu schreiben, wird das Buch nicht gerecht. Dafür ist die deutsche Geschichte zu spezifisch, zu sehr bleibt der Blick auf andere Kulturen und Kontinente mit ihren möglicherweise auch widersprüchlichen Entwicklungen ausgespart. Den Ertrag des Buches schmälert dieser Einwand nicht, denn als deutsche, womöglich gar europäische Bildgeschichte kann es überzeugen.

Neben den bereits genannten gilt es weitere Vorzüge dieser in fast jeder Hinsicht überzeugenden Studie zu nennen. Zunächst ist hier der Stil des Autors zu erwähnen, der dem Leser die Lektüre leicht macht, ohne oberflächlich zu sein. Befördert wird der Lesefluss durch das hervorragende Layout, durch das die insgesamt 882 meist farbigen Abbildungen und der Text sich wechselseitig stützen. Die Anordnung der Bilder lässt nicht selten Vergleiche zu, die auch ohne nähere Erläuterung schon zu Erkenntnissen führen. Auch die Platzierung der insgesamt 3380 Anmerkungen und Literaturverweise als Endnoten nach jedem Kapitel trägt zur Lesbarkeit bei.

Wenngleich die Publikation als aufeinander aufbauende Gesamtstudie konzipiert ist, haben Autor und Verlag darauf geachtet, dass sie auch als Nachschlagewerk funktioniert. Davon zeugen nicht allein das umfangreiche Orts- und Personenregister, sondern auch der Aufbau der Kapitel und Unterkapitel. Diese werden jeweils gerahmt von einführenden bzw. zusammenfassenden Sequenzen, sodass dem Leser auch ein voraussetzungsloser Einstieg mitten in den Text ermöglicht wird. Dazu tragen zusätzlich die wohldosierten, kapitelübergreifenden Bildverweise im Text bei. Eine solche Teillektüre würde jedoch den eigentlichen Ertrag des Buches schmälern. Denn wer beispielsweise nur das Kapitel über die Zeit des Nationalsozialismus liest, erhält zwar einen detaillierten, in den historischen Kontext eingebetteten Überblick. Es entgehen einem dann jedoch die in früheren Jahrzehnten gelegten technischen, ästhetischen und ideologischen Voraussetzungen dieser Epoche, die der Autor in den beiden vorherigen Kapiteln so überzeugend darlegt.

Während die Schwerpunktsetzungen und die Auswahl der Bildbeispiele grundsätzlich überzeugen, bleibt der Autor eine theoretische Fundierung seines Gegenstandes weitgehend schuldig. Paul beruft sich zwar auf einen breiten Bildbegriff und zählt die für ihn davon umfassten Bildarten auf, doch gerade für die methodisch schwer fassbaren Grenzfälle wie die von ihm explizit erwähnten immateriellen und mentalen Bilder hätte es, wenn nicht einer Definition, so zumindest doch einer theoretischen Reflexion bedurft (13). Was oder wann ein Bild eigentlich ist, wird ebenso wenig diskutiert wie die für das Gesamtunterfangen zentrale Frage, wie sich Bildlichkeit und Visualität zueinander verhalten. Eine Problematisierung des Bild-, Medien- und Visualitätsbegriffs wäre wünschenswert gewesen. Diese methodische Lücke könnte ursächlich dafür sein, dass sich die im Text erzählte Entwicklungsgeschichte phasenweise wie eine Fortschrittsgeschichte liest, die von Bildern handelt, welche immer schneller, raffinierter und überwältigender, vor allem aber zahlenmäßig mehr werden. Gegenläufige Prozesse und Widersprüche finden zu selten Erwähnung. Dabei stellt sich etwa durchaus die Frage, ob eine steigende Anzahl an Bildern zwangsweise auch zu einer qualitativ neuen Visualität führt und welche Rolle etwa mentale Bilder dabei spielen. Die Eigenarten jenes Visual Man, den Paul als Prototyp des visuellen Zeitalters beschreibt, hätten durch Fragen dieser Art differenzierter beschrieben werden können, - das Ergebnis wäre womöglich ein Visual Man mit noch ambivalenteren Dimensionen gewesen.

Auch die positiv erwähnte Zusatzfunktion als Nachschlagewerk besitzt eine Kehrseite. Durch die hierfür notwendigen Zusammenfassungen und Wiederholungen in den Kapiteln ergibt sich bei der Lektüre des Gesamttextes manche Redundanz.

Dies alles schmälert aber die Leistung Pauls nicht. Mit diesem Buch hat er die bislang umfangreichste Bildgeschichte der Moderne in deutscher Sprache vorgelegt und setzt damit Maßstäbe. Man staunt, wie belesen und vor allem "besehen" der Autor ist: Er gibt einen fundierten Überblick über eine Vielzahl von Epochen und Medien, wofür bei vergleichbaren publizistischen Vorhaben in der Regel die Mitarbeit mehrerer Personen nötig ist. Pauls These zur Moderne als visuellem Zeitalter ist dabei nicht neu, aber nie zuvor wurde sie so detailliert und damit auch so überzeugend dargelegt. Ob man ihr letztlich folgt, ist dabei eher sekundär. Es ist auch so eine Publikation, die das Potenzial besitzt, zu einem Standardwerk zu avancieren.


Anmerkung:

[1] Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008; Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949, Göttingen 2009; Gerhard Paul: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013.

Nikolas Werner Jacobs