Rezension über:

Lars Lüdicke: Constantin von Neurath. Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 705 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77838-3, EUR 78,00
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Rezension von:
Sergej Z. Sluč
Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau
Empfohlene Zitierweise:
Sergej Z. Sluč: Rezension von: Lars Lüdicke: Constantin von Neurath. Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/03/24961.html


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Lars Lüdicke: Constantin von Neurath

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Kann ein Berufsdiplomat Außenminister werden? Zweifellos. Aber kann ein Berufsdiplomat als Außenminister auch Politiker werden? Diese Frage ist erheblich schwieriger zu beantworten, denn das hängt nicht nur von den persönlichen Fähigkeiten des Ministers und seiner Professionalität ab, sondern vor allem vom politischen Charakter des Regimes, in dem er diese Rolle einnimmt. Unter den Bedingungen eines totalitären Staats ist das ausgeschlossen, denn es sieht seinem Wesen nach das Auftreten mehrerer Politiker auf der politischen Bühne nicht vor - diese Funktion bleibt einem einzigen vorbehalten. Daher konnte Constantin Freiherr von Neurath, der in der Weimarer Republik kein Politiker sein wollte, es im nationalsozialistischen Deutschland auch nicht werden. Dennoch wurden er und seine Tätigkeit als erster Außenminister des Dritten Reichs von den Historikern nicht vergessen, sondern lediglich in den Hintergrund gerückt, was auch bestimmten Tendenzen der deutschen Historiografie geschuldet ist. Es ist kein Zufall, dass die erste Biografie von Neuraths in Deutschland erst 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen ist, als zweite überhaupt weltweit. [1] Auch die Zahl der Aufsätze, die seiner Tätigkeit als Reichsminister gewidmet sind, ist recht gering, was ganz im Gegensatz zu der großen historiografischen Aufmerksamkeit steht, die sein Amtsnachfolger Ribbentrop genießt. Und dennoch ist von Neurath gerade in der Rolle des Reichsministers in der historischen Erinnerung geblieben.

Dies und vieles andere gilt es bei der Auseinandersetzung mit Lars Lüdickes politischer Biografie zu beachten. Gestützt auf umfangreiches Archivmaterial, wie etwa auf von Neuraths persönliche Briefe, sowie veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur beschreibt der Autor das Leben seines Protagonisten von der Kindheit bis ins hohe Alter vor dem Hintergrund einer beispiellos turbulenten Epoche. Herausgekommen ist indes kein wirklich abgerundetes Porträt: Teilweise ist es sehr eindrucksvoll und überzeugend, besonders wenn es von Neurath sehr lebendig als Menschen mit seinen Vorzügen und Mängeln beschreibt - wobei letztere eindeutig überwiegen. Es ist eine äußerst diplomatische Charakterisierung, wenn Lüdicke dem künftigen Reichsminister auf Seite 29 "eine auffällige Unauffälligkeit" zuschreibt. Teilweise bleibt die Biografie von Neuraths aber auch recht oberflächlich und fragmentarisch, was besonders bemerkenswert ist, weil das vor allem die wichtigen Abschnitte seines Wirkens betrifft.

Lüdicke vertritt die Meinung, von Neurath habe nicht über "politische Weitsicht" verfügt (234), welche den Unterschied zwischen einem hochgestellten Staatsbediensteten und einem Politiker ausmacht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass er keine eigenen Vorstellungen von der Gestaltung und den Zielen der Außenpolitik Deutschlands hatte. Im Buch wird dieser Frage große Aufmerksamkeit gewidmet; der Autor verfolgt die Entwicklung von Neuraths außenpolitischen Ansichten über mehrere Jahrzehnte hinweg. Zu der Zeit, als ihm erster politischer Einfluss zuwuchs, ging er stets davon aus, Deutschland müsse unbedingt den Weltmachtstatus wiedererlangen, und zwar ausschließlich mittels einer Politik der Stärke. Dabei, so Lüdicke, gingen diese Vorstellungen nicht über den Rahmen der imperialistischen Ziele des bekannten "Hindenburgprogramms" hinaus, was sie natürlich prinzipiell von Hitlers Auffassung und Absichten unterschied, der in den "wilhelminischen Expansionsfantasien" (256) nur ein Vorspiel auf dem Weg zur Weltherrschaft sah. Aber gerade von Neurath bot Hitler bereits im Januar 1932 für den Fall einer Regierungsbildung unter der Beteiligung der Nationalsozialisten das Außenministerium an.

Daraus ergibt sich notwendigerweise die Frage, warum Hitler von Neurath für geeignet hielt und warum dieser Hitler schätzte, obwohl ihre Vorstellungen über die künftigen Ziele der deutschen Außenpolitik fundamental auseinander gingen. In Lüdickes Buch, so könnte man sagen, wird auf die erste Frage eine geradezu erschöpfende Antwort gegeben. Deutschland, das im Zuge einer turbulenten innenpolitischen Entwicklung und der Festigung des nationalsozialistischen Regimes seine militärische Macht und seinen politischen Einfluss verstärkte, brauchte gerade einen Mann wie von Neurath. Als Vertreter des neuen Reichs in der internationalen Arena, sollte er die Einhaltung traditioneller Regeln und Normen symbolisieren und damit die zunehmenden Abwendungen von eben diesen verschleiern. Gerade die Kombination dieser Anforderungen mit den Ansichten von Neuraths über die Stellung Deutschlands in der Welt machte von Neurath zum optimalen Kandidaten für das Amt des Außenministers in einer Periode der Aufrüstung und der Vorbereitung der Aggressions- und Annexionspolitik.

Die fünf Jahre, in denen von Neurath das Außenministerium führte, bestätigten Hitlers Einschätzung vollständig. Wahrscheinlich übertrafen sie sogar seine größten und optimistischsten Erwartungen in Bezug auf die günstige Atmosphäre, in der andere, vor allem europäische Staaten, es Deutschland erlaubten, sich auf den Krieg vorzubereiten.

Was die Frage betrifft, warum von Neurath Hitler schätzte, so ist offenkundig, dass der Reichsminister mit der Situation zufrieden war, weil sich erfüllt hatte, was er schon 1923 voll Hoffnung an seine Mutter geschrieben hatte: "Aber einmal wird doch auch bei uns ein Mussolini kommen." (165)

Die Bildung einer Regierung mit Hitler an der Spitze als Voraussetzung für eine "einigermaßen vernünftige Außenpolitik" (153), d.h. einer Politik, die sich auf eine Diktatur stützte, entsprach vollkommen von Neuraths politischen Vorlieben - Krieg als ultima ratio der Politik eingeschlossen. (452f.) Diese Haltung hat er über fast seiner gesamten Ministerzeit beibehalten, und später, als er nach dem Krieg im Gefängnis saß, bestätigt: "Soweit Hitler vernünftig war, habe ich seine Politik unterstützt." (9)

Hier ergibt sich folgerichtig die Frage, was hinter dieser Unterstützung stand. Der Reichsminister des Äußeren war schließlich kein außenstehender Beobachter. Nach Lüdickes Meinung folgen, obwohl seit der Verurteilung von Neuraths im Nürnberger Prozess schon viele Jahrzehnte vergangen sind, die Historiker immer noch der Auffassung, die Karl Dietrich Bracher bereits 1957 formuliert hat: von Neurath habe "die Verantwortung für eine Außenpolitik" übernommen, "die er nicht gemacht hat" (579). Lüdicke führt keine Belege für seine Behauptung an, vielleicht in der Annahme, dass diesbezüglich alles bereits in einem anderen Buch geklärt worden ist. [2] Dabei müsste Brachers 60 Jahre alter Befund zu einer interessanten und nützlichen Diskussion des Problems der Verantwortlichkeit in unterschiedlichen politischen Systemen anregen. Was von Neurath betrifft, so "machte" dieser die deutsche Außenpolitik bis zu seiner Entlassung in dem Sinne, dass er und der Apparat seines Ministeriums den Mechanismus bildeten, durch den Hitlers außenpolitische Entscheidungen verwirklicht wurden. Die Beteiligung von Neuraths an der Ausarbeitung dieser Entscheidungen hat Autor nicht immer vollständig rekonstruiert und analysiert, was sich folgerichtig auch in der Behandlung der inhaltlichen Seite der Anklagen gegen von Neurath als Außenminister im Nürnberger Prozess bemerkbar macht. Davon handelt im Übrigen buchstäblich nur ein einziger Absatz. (568)

Keineswegs unbestreitbar ist auch Lüdickes Position zur Rolle von Neuraths bei der Umsetzung von Hitlers weltanschaulichen Grundsätzen in der internationalen Arena entgegen deren spezifischen Rahmenbedingungen: Er qualifiziert diese Rolle als entscheidend. (403) Hier dämonisiert der Autor den Reichsminister, den er zuvor als "die schiere Durchschnittlichkeit" (61) charakterisiert hat, geradezu, der die von Hitler geforderten außenpolitischen Ergebnisse schwerlich ohne zwei tatsächlich entscheidende Ermöglichungsfaktoren hätte erreichen können:

- die Politik der anderen wichtigen Spieler in der internationalen Arena, die auf verschiedene Weise günstige Bedingungen für die Verwandlung des nationalsozialistischen Deutschland in die größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit anderer Länder schufen;

- die hochrangigen Berufsdiplomaten in verschiedenen Hauptstädten der Welt, die, mit seltenen Ausnahmen, ihre Fähigkeiten in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes stellten und die Umsetzung der Vorhaben des "Führers" ermöglichten, deren tatsächlichen Sinn sie nicht immer erkannten.

Ohne die ständige Berücksichtigung dieser sowie einer Reihe anderer Faktoren kann die Rolle des Außenministers bei der Umsetzung der Politik des 'Dritten Reichs' schwerlich im vollen Ausmaß bewertet werden.

Aus dieser Perspektive kann man sagen, dass Lüdickes Porträt von Neuraths, besonders in der der verantwortungsvollsten Zeit seiner Tätigkeit, seine "Verdienste" vor der Geschichte nicht ganz präzise widerspiegelt. Überdies rückt die Schilderung der Epoche die Hauptfigur - vom Autor ungewollt - allzu häufig in den Hintergrund.


Anmerkungen:

[1] Vgl. John L. Heineman: Hitler's First Foreign Minister. Constantin Freiherr von Neurath, Diplomat and Statesman, Berkeley u.a. 1979.

[2] Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit, München 2010.

Sergej Z. Sluč