Rezension über:

Heinz Schilling: 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München: C.H.Beck 2017, 364 S., 40 s/w- Abb., 1 Kt., ISBN 978-3-406-70069-9, EUR 24,95
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Rezension von:
Olaf Mörke
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Mörke: Rezension von: Heinz Schilling: 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München: C.H.Beck 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/29815.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "500 Jahre Reformation - I" in Ausgabe 17 (2017), Nr. 10

Heinz Schilling: 1517

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2012 markierte Heinz Schilling mit seiner großen Biographie Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs einen ersten kräftigen publizistischen Höhepunkt der Reformationsforschung im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2017. Das Werk bediente das Interesse eines größeren Publikums. Die zahlreichen Auflagen zeigen das nachdrücklich. Vor allem aber setzte es einen thesenstarken Maßstab auch und gerade für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Luther und die Reformationsforschung insgesamt.

Das neue Buch, punktgenau zum Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema Reformation auf den Markt gebracht, ist keine wissenschaftliche Veröffentlichung in dem Sinn, dass es auf der Basis eigener Forschung Historikern und Theologen sachlich oder methodisch Neues bieten würde. Es ist ein klassisches Sachbuch für eine große historisch interessierte Öffentlichkeit und entsprechend als solches zu beurteilen. Dass die verlegerische Absicht greift, zeigen die drei Auflagen innerhalb kürzester Zeit. Weitere werden zweifelsohne folgen. Für diese sei dem Verlag die Korrektur von störenden Detailfehlern empfohlen: Die Inkas siedelten nicht in Yukatan/Mexico (13, 16f.), sondern entlang der südamerikanischen Westküste. Karl V. war nicht der Sohn Johanns des Schönen (39), sondern Philipps. Dies nebenbei!

Im Werbetext des Verlages heißt es: "'1517' ist das etwas andere Buch zum Reformationsjahr. Es schaut nicht auf den Bauchnabel Wittenberg, sondern auf die ganze Welt. Wie sah diese Welt zur Zeit Luthers eigentlich aus? Heinz Schilling [...] nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise, die uns nach Italien und Spanien, zu den Osmanen, an den chinesischen Kaiserhof und ins Reich der Azteken führt. In diesem Buch wird das Zeitalter der Reformation aus einem ungewohnten Blickwinkel betrachtet. Es nimmt die Ereignisse von 1517 als Ausgangspunkt für eine Erkundung der Welt, in der Luther und seine Zeitgenossen lebten. Fremde Länder und Kontinente rücken dabei ins Licht, Machtkonstellationen und Lebensverhältnisse werden besichtigt [...]. Spannend, kurzweilig und höchst informativ präsentiert Heinz Schilling einen der originellsten Beiträge zum Reformationsjahr."

Die pointilistische Anmutung dieses Konzeptes wird durch den Autor selbst bestätigt. Eingangs betont er das Kaleidoskophafte seines Anliegens: Es "soll das 'Epochenjahr 1517' in einem weiten, 'globalen' Verständnis von Weltgeschichte neu vermessen werden. [...] Es geht zunächst um einen Bericht über das, was 1517 und in den vorangegangenen oder folgenden Jahren, geschah; über die Akteure, ihr Denken und ihre Weltbilder; über die Beweggründe und Folgen ihres Handelns; über die Weichen, die sie für kurze oder langanhaltende Veränderungen stellten. Dabei werden wir mit Welten konfrontiert, die uns heute tief fremd sind." (18f.)

Das Fremde, Befremdliche zum Basso continuo des Darstellungsprogrammes zu machen, hat Schilling bereits bei seiner Lutherbiographie erfolgreich ausgetestet. Hier geschieht dies nun in einem anderen Maßstab. Unter ganz verschiedenen systematischen Perspektiven werden Orte, Regionen und Kontinente in den Blick genommen. In sieben Kapiteln wird zunächst die politische Welt Europas und Vorderasiens samt "der aufziehenden Konfrontation zweier Weltregionen und 'Weltreiche'" beleuchtet (Kapitel I), ehe Friedenssicherungskonzepte und Bemühungen um die Geldwertstabilität - zwei auf den ersten Blick so verschiedene Handlungsfelder - untersucht werden (Kapitel II). Die Begegnungen mit Amerika und Asien (Kapitel III) wird mit dem "autochthonen kulturellen Aufbruch im Zeichen von Humanismus und Renaissance" (Kapitel IV) ebenso argumentativ verbunden, wie mit den kollektiven Ängsten und Sehnsüchten in Europa (Kapitel V). Die Kapitel VI und VII umspielen das Spannungsspektrum zwischen dem Glanz des Renaissancepapsttums, dem verbreiteten Verlangen nach spirituellen und institutionellen Reformen der lateinischen Christenheit und der Antwort, die der "Mönch in Wittenberg", gleichsam an den "Grenzen der Zivilisation" gab. Wittenberg an den 'Grenzen der Zivilisation' zu platzieren, wird diejenigen irritieren, für die von der kursächsischen Residenzstadt ein gleichsam intendierter Epochenwechsel ausging, der sie zum Zentrum nicht nur des lutherischen Protestantismus' sondern gar der weltgeschichtlichen Erneuerung erhob.

In der Fachwissenschaft mag das kein Thema mehr sein. In der populären Bildformung von 'Reformation' spielt solcherart eindimensionale Fixierung auf den reformatorischen Wandlungsimpuls freilich noch immer eine Rolle - und keine untergeordnete, wie manch mediales Erzeugnis des Reformationsjahres 2017 erahnen lässt. Hier ist also durchaus noch intellektuelle Aufräumarbeit zu leisten. Und doch, dass um 1517 sich die Indizien des Wandels in den materiellen und immateriellen Seinsbedingungen verdichteten, ist wesentlich in Schillings Narrativ. Der darstellungstechnische Pointilismus, der den großen Teil des Buches charakterisiert, wird - zunächst im Textverlauf allenfalls auf den zweiten Blick erkennbar - im Epilog argumentativ zusammengebunden. Was auch in der Reformationsforschung schon länger Standard ist, nämlich den längerfristigen und vielschichtigen Transformationscharakter der Periode um 1517 zu betonen, ist auch Schillings Syntheseansatz. Ergebnis sei ein "Grundsatzwandel" eines "Europa [...] im Aufbruch" (306), der die normative Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des lateinisch-europäischen Christentums belege. Er bindet dies argumentativ an die Entstehung einer durch die neue(n) Welterfahrung(en) geprägten Wissenskultur, die bis in die Gegenwart wirke.

Hier scheint die Thesenfreudigkeit auf, die man von Schilling kennt und erwartet. Sie mag an der ein oder anderen Stelle zu weit tragen oder zumindest argumentativ nur sehr locker an das Faktische angebunden sein. So, wenn er auf den "Prozess der Säkularisierung, der dem Christentum eingeboren" gewesen sei, verweist (308). Aber das tut dem Sinn des Unterfangens keinen Abbruch, das protestantische Wunderjahr in eine die Welt insgesamt ins Auge fassende Perspektive von im weitesten Sinn kulturellen Transferprozessen einzubinden. Davon profitiert dann auch derjenige, der sich aus fachwissenschaftlicher Sicht mit der Reformationsgeschichte befasst. In dessen mental map ist nach der Lektüre von 1517 die Welt in erfrischend anderer Vermessung angekommen.

Olaf Mörke