Rezension über:

Daniel R. Schwartz: Between Jewish Posen and Scholarly Berlin. The Life and Letters of Philipp Jaffé, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, XIII + 380 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-048460-1, EUR 89,95
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Rezension von:
Andreas Fischer
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fischer: Rezension von: Daniel R. Schwartz: Between Jewish Posen and Scholarly Berlin. The Life and Letters of Philipp Jaffé, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30615.html


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Daniel R. Schwartz: Between Jewish Posen and Scholarly Berlin

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Wenn ein Leben ein dramatisches Ende nimmt, noch dazu ein selbstgewähltes Ende vor der Zeit, dominiert dieses Ereignis oft die Sicht auf die gesamte Biographie der betreffenden Person. Dies gilt auch für die Vita des jüdischen Gelehrten Philip Jaffé, dessen Freitod in einem Gästehaus in Wittenberge im Frühjahr 1870 bereits die Zeitgenossen - vom Tod erschüttert und in Ermangelung klarer Aussagen durch den Verstorbenen - irritiert nach Motiven suchen ließ. Obschon es an Mutmaßungen über die langfristigen Ursachen der Tat schon in den Nachrufen nicht fehlte, ist bis heute unklar, was konkret den Entschluss zum Freitod veranlasst hat. Eine umfassende Biographie des Historikers stellt darüber hinaus überhaupt ein Desiderat der Forschung dar.

Die vorliegende Darstellung will diese Lücke nicht vollständig schließen, versteht sich aber als Beitrag zu einem besseren Verständnis des Lebens des Gelehrten, dezidiert als "an attempt to understand what brought Jaffé's career and life to its tragic conclusion" (3). Diesem Zweck dient die Edition von insgesamt 229 Briefen, die von Jaffé im Alter von 19 bis 51 Jahren, also zwischen 1838 und 1870, kurz vor seinem Tod, verfasst wurden (89/97-356). 117 der Schreiben richten sich an seine Eltern, einige weitere an andere Familiengehörige; der Rest war an Fachkollegen adressiert, wobei Theodor Mommsen mit 28 Briefen und Georg Heinrich Pertz, früher Förderer und späterer Widerpart, mit 24 Schreiben bedacht wurden. Umfang und Berichtszeitraum der in Kurrentschrift gehaltenen Dokumente variieren stark. Neben ausführlichen Briefen, die über mehrere Wochen hinweg schrittweise niedergeschrieben wurden und über Ereignisse in diesem Zeitraum Auskunft geben (etwa Nr. 2 S. 98-103), finden sich Mitteilungen in knapper Form (etwa Nr. 4 S. 105f.), darunter auch paläographische Kurzexpertisen (etwa Nr. 186 S. 322).

Die Briefe sind anschaulich formuliert und gewähren bisweilen tiefe Einblicke in die Nöte und Sorgen, aber auch in die Freude und wachsende Fachkenntnis ihres Verfassers. Insgesamt bilden sie auf diese Weise die Grundlage für die Darstellung von Jaffés Leben, die den ersten Teil des Buches ausmacht. Zahlreiche Querverweise aus dem Editionsteil auf den biographischen Abriss bezeugen, wie umfassend dieser Teil der Abhandlung aus den Schreiben schöpft. In insgesamt vier Kapiteln folgt der Autor seinem Protagonisten dabei zunächst von Posen, in dessen Nähe Philipp Jaffé 1819 als Sohn eines jüdischen Unternehmers geboren wurde und wo er seine Schulausbildung erhielt, nach Berlin (8-22). Dort arbeitete der junge Jaffé dem Wunsch des Vaters entsprechend zunächst in einer Bank, fand aber nebenbei noch die Zeit, an der Universität Vorlesungen in Geschichte und anderen Fächern zu hören. Wenig später schrieb er sich jedoch, begeistert insbesondere vom Mittelalter, als regulärer Student ein. Nach anfänglichem Interesse für die jüdische Geschichte konzentrierte er sich unter der Anleitung von Leopold von Ranke, bei dem er Seminare besuchte, auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts (mit Arbeiten zu Lothar von Süpplingenburg und Konrad III.). Es war aber schließlich Pertz, der ihn mit der Erstellung der Papstregesten, die bis zum heutigen Tag mit seinem Namen verbunden sind, betraute und seiner künftigen wissenschaftlichen Biographie auf diese Weise den Weg wies: den des philologisch interessierten Hilfswissenschaftlers und versierten Editors mittelalterlicher Quellen.

In einem zweiten Kapitel wendet sich Schwartz den Jahren von 1850 bis 1854 zu, als Jaffé insbesondere aufgrund seiner jüdischen Herkunft Probleme in seinen Bestrebungen bekam, eine Festanstellung in der Wissenschaft zu finden; ein zwischenzeitlich absolviertes Studium der Medizin (mit Promotion zu einem medizinhistorischen Thema, das gleichfalls im Mittelalter angesiedelt war) und das kurzfristige Praktizieren als Augenarzt schuf freilich nicht die gewünschte finanzielle Sicherheit (23-28). Aus dieser für ihn gänzlich unbefriedigenden, ja misslichen Lage wurde er im Sommer 1854 durch Pertz befreit, der ihm eine Anstellung bei den MGH verschaffte (Kapitel 3: 29-41). Dort war er beinahe zehn Jahre tätig, ehe der Versuch, Jaffé zum Direktor der Florentiner Archive zu machen, von Pertz hintertrieben wurde. Dies führte zum Bruch zwischen beiden Männern und ließ Jaffé das Arbeitsverhältnis abrupt beenden. Anstellung fand er nun, wie im vierten, dem umfangreichsten Abschnitt der Darstellung, der die anschließende, letzte Phase seines Wirkens behandelt, beschrieben wird (42-80), als Extraordinarius für Historische Hilfswissenschaften an der Berliner Universität. Diese Position als einer der ersten Hochschullehrer jüdischer Herkunft in der Stadt verdankte er neben seiner inzwischen allgemein geschätzten Expertise in hilfswissenschaftlichen und philologischen Fragen auch der Fürsprache Theodor Mommsens, dem er - wie auch der sich intensivierende Briefwechsel zwischen beiden zeigt - fortan in Dankbarkeit verbunden blieb.

In diese Zeit fiel die Herausgabe der Bibliotheca Rerum Germanicarum, die von Jaffé im Gespräch mit Kollegen offenkundig selbst als "Antimonumenta" bezeichnet wurde (46). Zugleich wurde der jüdische Gelehrte nunmehr vollends, wie Schwartz anhand von akribischer Analyse zu zeigen vermag, in die Machtkämpfe und Intrigen hineingezogen, die sich zwischen Pertz, dessen Sohn Karl und ihren Anhängern einerseits sowie ihren Gegnern um Theodor Mommsen andererseits an der Frage der Nachfolge an der Spitze der MGH entzündet hatten. Der Autor zeichnet präzise nach, wie Jaffé in diesem Zusammenhang nicht nur wissenschaftlich attackiert, sondern auch persönlich diffamiert wurde. Zugleich lassen seine Ausführungen aber auch erkennen, wie sich der Gelehrte selbst an der Auseinandersetzung und ihrer zunehmenden Eskalation beteiligte. Ein Konflikt mit Waitz scheint, so legt Schwartz hier wie schon an früherer Stelle nahe [1], in Verbindung mit einem von Mommsen als "Katastrophe" bezeichneten Vorkommnis, das sich möglicherweise am 22. März im Rahmen eines universitären Festakts zutrug, zum Entschluss beigetragen zu haben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Den Boden hierfür hatte in den Jahren zuvor die wachsende Distanz zur Familie sowie seine zunehmende Isolierung und Einsamkeit bereitet. Am 3. April 1870, zwei Wochen nach seiner Ankunft in Wittenberge, setzte Jaffé in seiner Pension seinem Leben durch einen Schuss ein Ende. Dokumente zur Tat und weitere Vermutungen zu Jaffés Motiven finden sich in einem Appendix am Ende des Bandes (357-372), der von einer knappen Auswahlbibliographie (373f.) und einem Personenregister (375-380) beschlossen wird.

Der Freitod Jaffés bestimmt erkennbar die Darstellung in Umfang und Gehalt. Dabei besticht die Arbeit durch die detaillierte und umsichtige Analyse einer Vielzahl von mühsam zusammengetragenen Dokumenten und Informationen. Schon deren Umfang, mehr aber noch der aufgewendete Scharfsinn bei der Behandlung der zwischenmenschlichen Konstellationen und der oft problematischen Einzelheiten nötigen Respekt ab. Gleichwohl bleibt die Erhellung der Umstände des Todes und der Motivation zum Selbstmord ein Vexierspiel, das sich einer Engführung auf eine Ursache oder einen konkreten Anlass für den Entschluss zum Freitod entzieht, wie auch der Autor erkennen lässt. Offene Fragen bleiben: weshalb hat, wenn doch der 22. März, wie man Schwartz gerne glauben möchte, eine so entscheidende Rolle spielte, Jaffé sein Testament bereits am 12. März verfasst? Weshalb zog er sich zunächst für zwei Wochen nach Wittenberge zurück, ehe er zur Waffe griff? Woher hatte der Gelehrte diese überhaupt? All dies wird wohl nie zu klären, die Gemengelage von langfristigen, auch gesundheitliche Aspekte einschließenden Vorbedingungen und kurzfristigen, reflexartigen Handlungsmotiven nicht zu entwirren sein. Ertragreicher scheint für die Zukunft hingegen eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Genese des Werks von Philipp Jaffé und seiner Verortung in der Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts, die seine Auswirkungen auf die nachfolgenden Forschergenerationen ebenfalls einschließt. Auch dazu hat der Autor mit seiner gründlich gearbeiteten Edition der Briefe Jaffés und seiner stilistisch ansprechend formulierten Untersuchung im ersten Teil des Buches einen äußerst wichtigen Beitrag geleistet.


Anmerkung:

[1] Daniel R. Schwartz: New Light and Remaining Questions Concerning the Death of Philipp Jaffé, in: Concilium Medii Aevi 18 (2015), 61-80.

Andreas Fischer